Ernst Toller: Revolution
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Ernst Toller
Eine Jugend in Deutschland
Zehntes Kapitel
Revolution
Die Not in
Deutschland wächst, das Brot wird schlechter, die Milch dünner, die Bauern
jagen die Städter von den Höfen, die Hamsterer kehren mit leeren Taschen heim,
die Soldaten an der Front, erbittert über das Prassen und Schwelgen der Etappe,
über das Elend der Heimat, haben den Krieg satt. »Gleiche Löhnung, gleiches
Essen, wär' der Krieg schon längst vergessen«, singen die Soldaten.
Vier Jahre
haben sie an den Fronten im Osten und Westen, in Asien und Afrika gekämpft,
vier Jahre dem Gegner widerstanden, im Schlamm und Regen Flanderns, im
Giftdunst der wolhynischen Sümpfe, in der sengenden Glut Mesopotamiens.
In der Nacht
vom 3./4. Oktober wird die Friedensnote an Wilson gesandt.
Dem
deutschen Volk, das die Katastrophe nicht ahnte, öffnet das unerwartete
Friedensangebot die Augen, so war alles umsonst, die Millionen Tote, die
Millionen Krüppel, das große Sterben, das große Hungern, alles umsonst.
Der Sieg der
bürgerlichen Demokratie, der das Friedensangebot begleitet, weckt keinen
Widerhall, weder der Reichstag erkämpfte sie noch das Volk, sie wurde diktiert,
wie die Brotkarte, wie die Kohlrübe. Und was hat sich denn sichtbar gewandelt?
Das Klassenwahlrecht ist verschwunden, Liebknecht und die anderen politischen
Gefangenen sind amnestiert, aber die Presse bleibt unterdrückt, Versammlungen
bleiben verboten, die Generäle herrschen wie früher, die Minister entstammen
der alten Machtkaste, die Rechtssozialisten Scheidemann und Bauer
Staatssekretäre, Exzellenzen, du lieber Gott.
Nur an den Frieden denkt das Volk, es hat allzulange
an den Krieg gedacht, allzulange an den Sieg geglaubt, warum sagte man ihm
nicht die Wahrheit, wenn sogar die Generäle verzagen, wie sollte das Volk nicht
verzweifeln, nur keinen neuen Kriegswinter, nur nicht wieder Hunger, wieder
Kälte und ungeheizte Stuben, wieder Blut, das Volk hat genug gehungert, genug
geblutet, es will Frieden.
Die
herrschenden Männer, die jahrelang das Volk in blinden Gehorsam zwangen und die
Fühlung mit ihm verloren, spüren seine Unruhe, seine Müdigkeit, seine
Verzweiflung, aber sie denken nur an die Gefährdung der Monarchie. Wenn der
Kaiser abdankt, glauben sie, ist die Monarchie zu retten. Das Volk schert sich
den Teufel um die Monarchie, längst hat Wilhelm das Volk verloren, die Frage
heißt nicht mehr Wilhelm oder ein anderer Kaiser, sondern Krieg oder Frieden.
Die Matrosen
der Flotte, des Kaisers blaue Jungen, rebellieren zuerst. Die Hochseeflotte
soll auslaufen, die Offiziere wollen lieber »den Untergang in Ehren als
schmachvollen Frieden«, die Matrosen, die schon 1917 Pioniere der Revolution
waren, weigern sich, sie löschen die Feuer, sechshundert Mann werden verhaftet,
die Matrosen verlassen die Schiffe, stürmen die Gefängnisse, erobern die Stadt
Kiel, die Werftarbeiter verbünden sich mit ihnen, die deutsche Revolution hat
begonnen.
München
folgt, Hannover, Hamburg, das Rheinland, Berlin. Am 9. November 1918 verlassen
die Berliner Arbeiter die Betriebe, von Osten, Süden, Norden ziehen die Massen
zum Zentrum der Stadt, alte ergraute Männer, Frauen, die jahrelang an den
Drehbänken der Munitionsfabriken gestanden haben, Kriegsinvaliden, Knaben, die
die Arbeit der Väter übernahmen. Fronturlauber stoßen zum Zug, Kriegswitwen,
Krüppel, Studenten, Bürger. Nicht Führer haben die Stunde des Aufbruchs
bestimmt, die revolutionären Obleute der Betriebe rechneten mit einem späteren
Tag, die rechtssozialistischen Abgeordneten sind überrascht und bestürzt, sie
waren dabei, mit dem Reichskanzler Prinz Max von Baden über
die Rettung der Hohenzollern-Monarchie zu verhandeln.
Schweigend
marschiert der Zug, kein Lied flammt auf, kein Jubel. Am Tor der
Maikäfer-Kaserne hält der Zug. Die Tore sind versperrt, aus Fenstern und
Scharten drohen Flintenläufe, Maschinengewehre. Werden die Soldaten schießen?
Aber die
Feldgrauen sind die Brüder dieser ausgemergelten, verhungerten Massen, sie
schleudern die Gewehre zu Boden, die Tore springen auf, das Volk dringt in die
Kaserne und verbrüdert sich mit den Soldaten des Kaisers.
Die
kaiserliche Flagge wird eingezogen, die rote Fahne gehißt, vom Balkon des
Schlosses verkündet Liebknecht die deutsche sozialistische Republik.
Die
herrschenden Gewalten weichen ohne Kampf, ohne Widerstand, die Offiziere
ergeben sich, nur einer, in ganz Deutschland einer, der Kapitän des Schiffes
»König«, hält seinem Kaiser die Treue und stirbt für ihn. Und was tun die
Fürsten? Prinz Heinrich, der Bruder des Kaisers, bindet sich um den Arm eine
rote Binde und flieht, der bayerische Kronprinz Ruprecht verläßt im
rotbeflaggten Auto des Brüsseler Soldatenrats die Truppe, Wilhelm II. flieht
nach Holland. Kläglich ist dieses Schauspiel, aber gefährlich für das Volk.
Wollte es denn Revolution? Es wollte Frieden. Kampflos ist ihm die Macht
zugefallen. Wird es lernen, die Macht zu bewahren?
Im Schloß zu
Potsdam sitzt die Kronprinzessin, sie hat ihre Kinder um sich versammelt, sie
denkt an das Schicksal Marie Antoinettes, an das Schicksal der Zarin, gleich
werden die Revolutionäre das Schloß stürmen und sie umbringen samt ihren
Kindern. Ein alter Diener meldet mit bleicher Stimme, der revolutionäre
Soldatenrat von Potsdam wünsche Kaiserliche Hoheit zu sprechen, der Soldatenrat
tritt ins Zimmer, an der Tür schlägt er die Hacken zusammen, nicht die
Verhaftung verkündet er, ehrerbietig spricht er: »Im Namen des Potsdamer
Soldatenrats soll ich Kaiserliche Hoheit fragen, ob sich
Kaiserliche Hoheit sicher genug fühlen, auf alle Fälle hat der Rat von Potsdam
bestimmt, daß zehn revolutionäre Soldaten den Schutz Eurer Kaiserlichen Hoheit
übernehmen.« Spricht's, schlägt die Hacken zusammen und geht davon.
Ein Märchen?
Der zweite Sohn der Kronprinzessin hat es mir erzählt.
»So sah eure
Revolution aus«, sagte er.
In Hamburg besetzten
die Unabhängigen das Gebäude der rechtssozialistischen Zeitung, zeternd laufen
die Rechtssozialisten zum alten kaiserlichen Richter, der erläßt eine
einstweilige Verfügung, mit dem Papier in der Hand stürmen sie ins
Verlagsgebäude, die unabhängigen Revolutionäre lesen das Papier, sehen den
Stempel der Behörde, erbleichen und verlassen mit knirschenden Zähnen das
eroberte Haus.
Die deutsche
Revolution fand ein unwissendes Volk, eine Führerschicht bürokratischer
Biedermänner. Das Volk rief nach dem Sozialismus, doch nie in den vergangenen
Jahren hatte es klare Vorstellungen vom Sozialismus gewonnen, es wehrte sich
gegen seine Bedrücker, es wußte, was es nicht wollte, aber es wußte nicht, was
es wollte. Die Rechtssozialisten und Gewerkschaftsführer waren versippt und
verfilzt mit den Gewalten der Monarchie und des Kapitalismus, deren Sünden
waren ihre Sünden. Sie hatten sich abgefunden mit dem bürgerlichen juste
milieu, ihr Ideal war die Überwindung des Proletariers durch den kleinen
gehobenen Bürger. Ihnen fehlte das Vertrauen zu der Lehre, die sie verkündet
hatten, das Vertrauen zum Volk, das ihnen vertraute.
Am Tage nach
der Revolution nahmen sie den Kampf auf, nicht gegen die Feinde der Revolution,
nein, gegen ihre leidenschaftlichsten Pioniere, sie hetzten und jagten sie, bis
sie zur Strecke gebracht waren, und quittierten den Dank in den Salons der
feinen Gesellschaft. Sie haßten die Revolution, Ebert hatte
den Mut, es auszusprechen.
Das Volk,
durch die Monarchie ferngehalten von der Verwaltung seiner Geschicke,
verzichtete jetzt freiwillig. Der Fuchsbau der alten reaktionären Bürokratie,
anstatt ihn zu zerstören, wurde gehätschelt und gepflegt. Bald pfiff aus ihm
die Antwort.
Den
Offizieren wurden in den ersten Tagen die Achselstücke von den Schultern
gerissen, das Volk wollte nicht einmal ihren Trägern wehe tun, es wollte das
Symbol des Herrentums und des Kadavergehorsams zerstören, weil es mit sicherem
Instinkt erkannte, daß in Symbolen Traditionen, Gefühle und Wünsche der
herrschenden Klasse eingefangen sind. Bald waren die Offiziere wieder Herren
und obenauf.
Ende Oktober
war ich nach Berlin gekommen. Ich sprach in den Versammlungen der Bürger und
Studenten, in denen Walter Rathenaus Aufruf zum nationalen Widerstand, zur
Levée en masse umkämpft wurde. Mag der einzelne Mensch das Recht haben, den
Freitod zu wählen, wahnwitzig ist es, ein Volk in den Selbstmord zu treiben,
weil seine Führung versagt hat. Der Aufruf beschwört die sinnlose Verwüstung
Deutschlands. Wir Heidelberger Studenten, erfahrener und reifer jetzt, haben
uns wiedergefunden und versuchen, gegen diesen Wahnwitz zu kämpfen. Wir sehen
die Revolution kommen und sammeln die Kameraden.
Am 9.
November liege ich in Landsberg im Haus meiner Mutter mit schwerer Grippe.
Während der Arzt mit bedenklicher Miene das steigende Fieber beobachtet, bringt
die Schwester die Nachricht der Revolution. Am nächsten Tag fahre ich nach
Berlin.
Hugo Haase,
der Volkskommissar, schlägt mir vor, Georg von Arco, den man als Gesandten des
Reichs nach München schicken will, als Sekretär zu begleiten. Aber inzwischen
hatte Eisner mich eingeladen. –
Auch in Bayern war das Volk kriegsmüde, zur
Kriegsmüdigkeit kam die Angst, daß italienische Truppen nach dem Zusammenbruch
Österreichs in Bayern einmarschieren würden. Die Bauern hatten den Krieg in
Frankreich und Rußland gesehen, sie dachten an die granatenzerwühlten Gräben,
die zerschossenen Dörfer, die verwüstete Erde. Der traditionelle Haß gegen
Preußen, gegen die Hohenzollern erwachte, mögen die den Krieg weiterführen,
ohne sie. Vom Hause Wittelsbach erwarteten sie nichts mehr, der König, sagten
die Bauern, hat sich von Berlin einwickeln lassen, würde er sich sonst nicht
gegen die bürokratischen Kriegsgesellschaften, die agrarischen Zwangsmaßnahmen
gewehrt haben? Weil's die in Berlin so haben wollen, dürfen sie in Bayern ihr
Korn nicht mahlen, weil die Saupreußen schlechtes Bier trinken, müssen auch sie
Spülwasser schlucken.
Eisner, mit
psychologischem Instinkt, erfaßte die Stimmung des Landes, er gewann die Bauern
und Arbeiter für den Sturz der Monarchie, gegen den Widerstand der Rechtssozialisten,
die über die Bildung einer konstitutionellen Regierung verhandelten.
Kiel war das
Fanal. Am 7. November zogen zweihunderttausend Menschen, voran Eisner und der
blinde Bauer Gandorfer, von der Theresienwiese in die Stadt, der König flüchtete,
die Revolution eroberte Bayern. In der Nacht wählte der
Arbeiter-und-Soldaten-Rat Eisner zum Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern.
In München
ernennt mich der Zentralrat der bayerischen Arbeiter-, Bauern- und
Soldatenräte, in dem ich viele Kameraden vom Januarstreik wiederfinde, zu
seinem zweiten Vorsitzenden. In der Kleinarbeit des Tages lerne ich die
mannigfachen praktischen Nöte der Bauern und Arbeiter verstehen.
Mitte
Dezember fahre ich zum Rätekrongreß nach Berlin. Hier sollte sich endlich der
politische Wille der deutschen Revolution zeigen. Welche Zerfahrenheit, welches
Unwissen, welchen Mangel an Willen zur Macht beweist er!
Der deutsche
Rätekongreß verzichtet freiwillig auf die Macht, das unverhoffte Geschenk der
Revolution, die Räte danken ab, sie überlassen das Schicksal der Republik dem
Zufallsergebnis fragwürdiger Wahlen des unaufgeklärten Volks. In jeder
parlamentarischen Republik sind die Minister dem Reichstag verantwortlich, die
Räte bestimmen, daß die Volkskommissare ohne die Kontrolle und unabhängig vom
Willen des Zentralrats regieren mögen. Die Republik hat sich selbst das
Todesurteil gesprochen.
Karl
Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Pioniere der Revolution, wollen vor den
Räten sprechen. Der Kongreß lehnt ab, sie anzuhören.
Einen Monat
später, beim Spartakusaufstand, der gegen Liebknechts und Rosa Luxemburgs
Willen losbricht, werden beide erschlagen, auf der Flucht erschossen, sagt die
amtliche Meldung. Die Nachricht erreicht mich in München, ich jage in eine
Massenversammlung der Rechtssozialisten. »Liebknecht und Luxemburg sind
ermordet«, rufe ich, und die Menge, die verblendete Menge, schreit: »Bravo!
Recht ist ihnen geschehen, den Hetzern!«
In Bayern
erschwert die Aktivität der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte der Reaktion
die Sammlung. Sie findet Verbündete in den rechtssozialistischen Ministern,
eine Bürgerwehr wird mit Hilfe Auers, der sie öffentlich fördert und bewaffnet,
formiert. Diese Bürgerwehr ist der erste Bund, der die Kräfte der
Konterrevolution organisiert, Vorläufer der Orgesch, des Stahlhelm, der
Einwohnerwehr, der nationalsozialistischen Sturmtruppen. Eines Tages werden sie
ihre Paten davonjagen. Neben der legalen Wehr arbeitet die illegale,
Fabrikanten geben das Geld zur Bezahlung einer Söldnertruppe, die alten
Offiziere haben wieder zu tun, sie hecken Pläne aus zur Besetzung der
Regierungsgebäude, sie organisieren Spionagebüros und
Sprengkommandos, sogar der Glocken- und Fliegeralarm wird vorbereitet. Wenn sie
losschlagen, wollen sie sagen, sie müßten die Nationalversammlung vor den
Bolschewisten schützen, in Wirklichkeit gilt ihr Putsch dem Sturz der Republik.
Im provisorischen Nationalrat enthülle ich im Auftrag des Arbeiterrats die
Pläne, die uns verraten waren. Die Bürgerwehr arbeitet im geheimen weiter, bald
wird es sich zeigen.
Anfang
Februar fahre ich mit Eisner nach Bern zum Kongreß der Zweiten Internationale.
Mit welch inbrünstigen Hoffnungen glaubte das Proletariat aller Länder an diese
Internationale.
Nie mehr
würde es den Herren des Kapitalismus gelingen, Kriege zu entfachen und die
Werktätigen zu blenden, nie mehr würde das Märchen vom angreifenden und
angegriffenen Staat Glauben finden, die Völker sind nicht mehr folgsame Horden,
sie sind erwacht und werden den Brudermord verhindern, eher werden sie die
Gewehre umkehren, als neue Verbrechen an der Menschheit dulden.
Am 4. August
1914, am ersten Kriegstag, zerbrach die Zweite Internationale, weder die Führer
band sie noch die Massen, ihren Ideen wahrten nur kleine Gruppen die Treue. Dem
Rausch des Nationalismus hielt der internationale Gedanke nicht stand, der
Chauvinismus triumphierte, die Proletarier aller Länder vergaßen die
brüderlichen Schwüre und schossen aufeinander, nicht mehr die Menschheit war
das Vaterland, sondern der kapitalistische Staat, nicht mehr der Bourgeois war
der Feind, sondern der Genosse jenseits der Grenze, die Ideale der
Vergangenheit waren stärker als die Ideale der Zukunft, die von der
herrschenden Klasse gezüchteten Instinkte stärker als flüchtige intellektuelle
Einsichten.
In Bern
treffen sich die Schiffbrüchigen der Zweiten Internationale, sie haben nicht
den Mut, ihren Bankerott zu bekennen und die politischen, moralischen und
psychologischen Gründe dieses Bankerotts zu erforschen, sie verhandeln tagelang über die Kriegsschuldfrage, Munitionsminister,
königliche Sozialisten, militärfromme Sozialdemokraten überhäufen sich mit
Vorwürfen, alle suchen und finden die Sünden der andern und vergessen die
eigenen. Eisner, Friedrich Adler, einige andere, die im Krieg zum Sozialismus
sich bekannten, versuchen, die Zweite Internationale zu retten. Die Manifeste
der Einigkeit verdecken nicht den unheilbaren Riß, Parteien, die wahrlich eine
Welt gewinnen konnten, haben versagt und versagen weiter, hier zerschellt ein
großer Glaube, eine große Menschheitshoffnung, hier scheiden sich Wahrheit und
Lüge, neue Fundamente müssen gebaut, neue Formen, neue Wege gefunden werden.
Eisner hat
mit seiner Berner Rede gegen den Imperialismus und gegen die Kriegsverbrecher
den erbitterten Haß der deutschen Reaktion erregt. Auf dem Weg zum bayerischen
Landtag töten ihn die Schüsse des einundzwanzigjährigen Grafen Arco-Valley.
Der Landtag
wird eröffnet, da stürzt der Arbeiter Alois Lindner mit erhobenem Revolver in
den Saal, schießt auf Auer, dem er die Schuld am Tode Eisners beimißt, schwer
verwundet sinkt Auer zu Boden. In wilder Panik stieben die Abgeordneten davon,
sie lassen das Parlament, das Volk, ihre Mandate, ihre Hüte und Mäntel im
Stich, Bayern hat keine Regierung.
Ich war nach
dem Berner Kongreß einige Tage zu Freunden ins Engadin gefahren, in St. Moritz
sah ich die jeunesse dorée aller Länder, ein deutscher Dichter hatte eigens für
sie ein Stück geschrieben, in stilechten Gewändern, mit Brillanten und Perlen
behängt, schauspielerten sie Völkerfrieden und Versöhnung, Gespenster und
Lemuren einer wesenlosen Zeit.
Am 21.
Februar 1919 fuhr ich nach Bayern. Auf einer Bahnstation hörte ich draußen
erregtes Rufen des Schweizer Bahnschaffners, drinnen kräftiges Bravo eines deutschen Spießers, verstand die Worte nicht, die an mein Ohr
drangen und mußte endlich begreifen: Kurt Eisner ist ermordet.
Eisner war
ein Mann von anderem geistigen Format als die Ebert, Scheidemann, Noske, Auer.
Deutsche Klassik und romanischer Rationalismus haben ihn geformt und gebildet.
Sein politisches Ideal war die vollkommene Demokratie, er verwarf die
parlamentarische Demokratie, die das Volk einmal an die Urne führt, um es dann
für Jahre auszuschalten. Von unten her sollte der Geist des Lebens und der
Wahrheit als kritischer, belebender, anfeuernder Geist das Tagewerk der
Gesellschaft durchdringen, darum bekannte er sich zur Rätedemokratie. Die
Notwendigkeit raschen sozialen Neubaus erkannte auch er nicht. An die Spitze
der Sozialisierungskommission, deren Einsetzung der Rätekongreß gefordert
hatte, berief er Professor Brentano, den bekannten Freiwirtschaftler, in der
ersten Sitzung dieser Kommission hielt er eine Aussprache, die die
Industriemagnaten aufhorchen ließ, sozialisieren, sagte er, könne man nur, wenn
etwas zu sozialisieren da ist, diese Voraussetzung fehlte in Deutschland.
Eisner haßte
die Presse als eine Volkspest, sie belüge und verhetze die Völker, trotzdem,
als einige Revolutionäre die Redaktion einer der übelsten Zeitungen besetzten,
fuhr er persönlich in das Verlagsgebäude und sorgte für den Abzug der Eroberer.
So stark war seine Verachtung der Journaille, so stark seine Achtung vor
formaler Pressefreiheit. »Die Wahrheit«, schrieb er während des Krieges in
einer Eingabe an das Münchener Generalkommando, »ist das höchste aller
nationalen Güter. Ein Staat, ein Volk, ein System, in dem die Wahrheit
unterdrückt wird oder sich nicht hervorwagt, ist wert, so rasch und so
endgültig wie möglich zugrunde zu gehen.«
Der Moralist
bekämpfte die Entwicklung in Berlin, er glaubte, daß die verantwortlichen
Männer des alten Systems, die im Auswärtigen Amt weiterregieren und die
Verhandlungen mit der Entente führen, den Frieden erschwerten, neue
Männer, aufrechte Republikaner, die nicht teilhatten an der Schuld der
Monarchie, seien nötig, sie würden mildere Friedensbedingungen für Deutschland
erreichen. Er hegte die Illusion, daß Clémenceau der Vorkämpfer der
europäischen Demokratie sei, er möchte ihn sprechen, ihn überzeugen, daß das
deutsche Volk durch die Revolution zur Freiheit, zur Verantwortung gefunden
habe, daß es ein Verbrechen an Europa wäre, dieses Volk durch einen grausamen
Frieden zu erniedrigen. Clémenceau wies den Mittelsmann schroff zurück, ja er
bedrohte ihn mit Verhaftung, weil er mit dem Feind konspiriere. Die
französischen Regierungsmänner und Militärs dachten nicht daran, die deutsche
Republik zu stützen, die einen hielten sie für ein Täuschungsmanöver der
Machthaber von gestern, die andern fürchteten den Sieg des Bolschewismus und die
Infizierung Frankreichs.
Eisner, zeit
seines Lebens arm, bedürfnislos, lauter, war klein, von schmalem Wuchs,
graublondes Haar fiel ihm wirr in den Nacken, ein wirrer Bart auf die Brust,
die kurzsichtigen Augen sahen fremd über den tief unter der Nasenwurzel lose
sitzenden Kneifer, die kleinen gepflegten Hände, von fraulicher Zartheit,
erwiderten weder den Druck von Freunden noch von Feinden, diese Geste zeigte
seine Scheu vor menschlicher Beziehung.
Eines
unterschied ihn von allen anderen republikanischen Ministern, sein Wille zur
Tat, sein Todesmut. Er wußte, daß ein Volk, ebenso wie ein Mensch, nur in
täglicher Arbeit reift, aber nicht, wenn eine Mauer zwischen Leben und Tat
gesetzt ist. Und er fürchtete nicht den Tod. Das fühlte das Volk, und darum glaubte
es ihm. Talente und Gaben sind vielen gegeben, aber nur dem, der die Furcht vor
dem Tod bewußt überwand, folgen die Massen.