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Dominik Dombrowski

Portraits



Dominik Dombrowski –
der
Alltagsmetaphysiker


Dominik Dombrowski, 1964 in Waco (Texas) geboren, in Bonn lebend, hat Philosophie und Germanistik studiert. Er ist als freier Lektor tätig, schreibt Rezensionen, errang 2008 den 3. Platz beim Irseer Pegasus und war 2010 Finalist beim Lyrikpreis München. Seine 2013 bei der Parasitenpresse veröffentlichte „Finissage“ erlangte Aufsehen, obwohl der Gedichtband nur 14 Seiten lang ist.
Für die Literaturzeitschrift
außer.dem hat er im Dezember 2012 bei den Haidhauser Büchertagen in München gelesen und zusammen mit Bertram Reinecke im Juni 2013 beim 1. Münchner Poesie=Marathon, worauf wir ihm ein paar Fragen zusandten, die er - wie folgt - beantwortete:

Alternde Männer, einsam, trinken, befinden sich permanent in einer Grauzone des Überlebens, totgeweiht, aber irgendwie stolz, männlich zu sein, durchzuhalten, ohne die traditionellen Aufgaben des Mannes, die ihnen genommen worden sind; oder sie haben sie verspielt – egal, sie befinden sich auf dem Weg, in dunklen Gassen, unruhig im Krankenhausbett, hören im Wind leise Töne aus der Vergangenheit? Warum dieses Männerbild?
Und vor allem, warum hauptsächlich der Mann, fühlst du dich als Chronist der Männerrolle?


Nein, das Männerbild in den neun Gedichten von „Finissage“ ist natürlich dem Konzept und dem Sujet geschuldet; es handelt sich dort um eine Reihe von autobiographischen Begebnissen, wenn auch nicht unbedingt immer um eigene autobiographische Erlebnisse, Dinge, die mir zugetragen worden sind, aus dem Fernseher oder beim Kaffeetrinken beim alten Onkel. Ich mag keine Gedichte schreiben, wenn sie nichts Authentisches an sich haben, oder nicht auf Erlebnissen und Erfahrungen beruhen. Deshalb wahrscheinlich auch dieses späte Debüt mit Finissage. Ich war, wenn überhaupt, eher zaghaft veranlagt, was das ganze Feld der experimentellen Lyrik betrifft. Ein experimenteller Lyriker  muß man aber verständlicherweise dann sein, wenn man schon im jungen Alter publiziert, denn – und das ist keineswegs despektierlich gemeint – wenn man als Dichter gerade mal etwas Schulbiographie, einige Unisemester und etwas Deutsche Bahn „erfahren“ hat, dann ist es schon aufrichtiger, an der „erlebten Lektüre“ zu experimentieren, sie zu variieren, sie zu persiflieren, sie zu zertrümmern, man arbeitet mehr introspektiv. Das ist übrigens der Grund auch, warum die „junge“ Lyrik immer als schwierig empfunden wird, aber sie ist genau deswegen dann auch wahrhaftiger, im Sinne des Probierens, und sie ist authentischer im Gegenwärtigen. Wenn ich daran denke, wie ich zum Beispiel als 17, 18, 19-Jähriger unter dem Einfluss Benns oder Rühmkorfs völlig abgeklärte Gedichte versuchte, also, wo ein gerade Volljähriger mal so eben pessimistisch und melancholisch ein Weltresümee zieht… Das will man doch nicht! - Als Leser. Würde ich jedenfalls nicht wollen. Es gibt aber auch das umgekehrte Phänomen betagterer Dichter (ohne jetzt Namen zu nennen), deren Texte aufgrund ihres wissenschaftlichen, bloß akademischen Lebens entweder mit Quasi-Erlebnissen aus Büchern aufgeladen sind, oder nur mehr ihr Dichten als Gedicht verteidigen wollen, indem sie Gedichte über Gedichte schreiben, das ist ja dann auch Scheiße. Deswegen auch mein Hang zu einer Weise von, naja, Geständnispoesie:  Beispielsweise sind die Gedichte „Blüte“ und „Schneekönig“ aus „Finissage“ auf eine Art auch Widmungsgedichte; dort setze ich mich mit den Krebstoden meiner Eltern auseinander. Und das Gedicht „Aus den Angeln“ spielt auf einer Ebene auf den Freitod meines Bruders an. Insofern also schon Chronist, aber nicht der Männerrolle. Das Konzept dieses Zyklus‘ widmet sich vielschichtig dem Phänomen des Älterwerdens zwischen Bohème und Prekariat, was ja in der Regel ein Pleonasmus ist. Deshalb auch der Titel „Finissage“, dieses Kunstwort aus dem Kunstmilieu für eine Feier zum letzten Tag einer Ausstellung. Eine Generation gerontologischer Hippies, wenn du so willst, die mit Andy Warhols legendärer Weissagung der „Berühmtheit einer Viertelstunde für Jedermann“ jetzt mit ihrer Hinfälligkeit konfrontiert werden. Aber diese Hinfälligkeit ist eben jetzt eine Hinfälligkeit in Jeans und mit Neil Young und den Rolling Stones, oder meinethalben auch Abba, um der Genderdebatte vorzubeugen. Wenn wir aber, die wir auch kurz davor stehen, diese Alten zu sein, an diese Alten denken, stellen wir sie uns ja stets noch in einem Angela-Merkel-Kostümchen vor, oder, männlicherweise, in beigen, gebügelten Hosen, einen Hut tragend und Hosenträger, bei einem koffeinfreien Kaffee sitzend, bei dem sie Operettensampler hören, ein kleingeschnittenes Leberwurstbrot essen und nach der Tagesschau und der Wettervorhersage ins Bett gehen. Und ich fürchte, diese jetzige Generation Altenpfleger/innen wird sie in den Altenheimen auch nach diesen Vorstellungen immer noch genauso behandeln.


"Er ist der fröhlichste / Schwerkranke den wir je
                                           hatten schwärmten die
Krankenschwestern freut er sich doch auf jeden /
                                           neuen Morgen"

(Schneekönig, erster Zweizeiler. Finissage S. 12)





"Eine mir befreundete Dame, eine sehr bekannte politische Journalistin, schrieb mir vor einiger Zeit, "ich mache mir nichts aus Gedichten, aber schon gar nichts aus Lyrik". Sie unterschied also diese beiden Typen. Diese Dame war, wie ich wußte, eine große Musikerin, sie spielt vor allem klassische Musik. Ich antwortete ihr, "ich verstehe Sie durchaus, mir zum Beispiel sagt Tosca mehr als die Kunst der Fuge". Das soll heißen, auf der einen Seite steht das Emotionelle, das Stimmungsmäßige, das Thematisch-Melodiöse, und auf der anderen Seite steht das Kunstprodukt. Das neue Gedicht, die Lyrik, ist ein Kunstprodukt. Damit verbindet sich die Vorstellung von Bewußtheit, kritischer Kontrolle, und, um gleich einen gefährlichen Ausdruck zu gebrauchen, auf den ich noch zurückkomme, die Vorstellung von "Artistik". Bei der Herstellung eines Gedichtes beobachtet man nicht nur das Gedicht, sondern auch sich selber. Die Herstellung des Gedíchtes selbst ist ein Thema, nicht das einzige Thema, aber in gewisser Weise klingt es überall an."

(Gottfried Benn: Probleme der Lyrik, 1951)



Neil Young, 2013


“In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes.”

(Andy Warhol in der "Warhol photo exhibition", Stockholm 1968)

Und dann dieses versteckte Bild, die Sehnsucht, Licht in die Körper zu bringen. Gehört das deiner Meinung nach zur Männerrolle?


Licht in den Körper bringen“ gehört im Gedicht „Blüte“ in eine stringente Gartenmetaphorik, mithilfe derer ich versuche (das lyrische Ich versucht es), einen Tumor zu bekämpfen, durch eine Art Photosynthese. Es ist eine spirituell-wissenschaftliche Verzweiflungsgeste, die dieses Poem durchwirkt. Der Ausgangspunkt ist der der Pflanzenfrau. Das Erlebnis, die Inspiration ist, wie ich eben erwähnte, in erster Linie autobiographisch. Meine Mutter ist die Patin dieser Pflanzenfrau, dieser Morphinistin, sie hatte einen grünen Daumen, schaffte es, aus allem um sich herum einen Garten zu errichten, egal in welcher Umgebung sie lebte, sie züchtete Apfelbäume auf Etagenbalkonen, sie war vernarrt in jedwede Gewächse, irgendwann erkrankte sie plötzlich im Jahr 2005 an Speiseröhrenkrebs. Im Januar dieses Jahres hatte sie noch quirlige Zukunftspläne, quietschte wie ein Teenager, weil sie eine Reise nach Rom plante, im November strich sie dann plötzlich an einem dunklen Krankenhausfenster herum und erklärte ihrem Tumor den Kampf mit diesem ängstlichen Kloß im Hals, den sie natürlich hatte, und ich dachte an ihren Kloß im Hals, der ja buchstäblich existierte. Ich habe sie dann zu Hause in ihrer Mietwohnung versorgt als sie austherapiert war, ich übernahm sozusagen die Palliativtherapie, klebte ihr also die Morphiumpflaster pünktlich und sorgfältig auf den Rücken, sie war selig, endlich ohne Schmerzen zu sein, wir rauchten zusammen Zigaretten wie nach einer geschlagenen Schlacht. Ich hatte ja selbst mal Erfahrungen mit dem Morphium gemacht und beneidete sie, weil es bei ihr jetzt über die Krankenkasse ging, wir machten darüber Witze, tranken Bier, führten in ihrem letzten halben Jahr einen Haufen philosophischer Gespräche über unser familiäres Schicksal oder beobachteten ihre Katze, die damals neun war, jetzt meine Katze ist und mittlerweile sechzehn, und ebenfalls viel zu sagen hatte, die Männerrolle spielte dabei nicht gerade eine Rolle. Wenn meine Mutter das Gedicht „Blüte“ je gelesen hätte, wäre wahrscheinlich ihr Kommentar gewesen: „Du spinnst!“

Domink Dombrowski bei der außer.dem-Vorstellung in München, Dezember 2012.


"Die Speiseröhre in der sie den Tumor fanden stellte
                                                        ich mir immer
wie einen Pflanzenstengel vor / die Metastasen die
                                                        bald
ihren ganzen Rücken befielen / bis in den Kopf hinein
                                                        begriff ich
als eine Art Pollenflug / irgendwann habe ich
                                                        begonnen
ihre Wohnung zu putzen/ wie ein Gärtner/ dachte ich
würde ich wieder Licht / in ihren Körper bringen
                                                        können
wenn erst einmal wieder / die Räume bestellt wären
denn sie war eine Pfanzenfrau"

(Blüte, erste Strophe, Finissage S. 11)

Bisweilen taucht so eine Art Double des männlichen lyrischen Ichs auf – ein Kind – du sagst, ich muss noch geboren werden und sterben, bevor wieder Nacht wird – und du folgst in der Grauzone zwischen Wachen und Tod einer Straße, die es am Tag nicht gibt – und am Ende sitzt ein Kind und baut auf (aus) Sand. Identifizierst du dich mit diesem Kind, steuert es dich? Oder erwartest du es am Ende deiner Tage als innere Begegnung?


Das Kind ist einerseits ein mystisches Alter Ego aber gleichzeitig auch eine gespenstische Hermesfigur, die ich dem Gedichtband voranschicke in dem Gedicht „Pathetiqué“, welches eigentlich bisher eher untypisch war für meine Art des Schreibens. Ich habe es visionär, in einem Dämmerungszustand zwischen Schlafen und Aufwachen direkt so runtergeschrieben und so belassen. Normalerweise mag ich das nicht, solche Gedichte, Zuflüsterungen aus dem Bauch. Aber ich neige in letzter Zeit immer mehr dazu, wahrscheinlich aufgrund einer dreißigjährigen Schreiberfahrung vertraue ich immer mehr einer solchen direkten Inspiration. Ich erfreue mich da an einer Rätselhaftigkeit, die ich auch für mich nicht gänzlich klären kann, es gibt noch ein anderes Gedicht – „Mysterium“ -  das dann in meinem nächsten Band „Fremdbestäubung“ ebenso durch seinen surreal-symbolistisch-prologischen Charakter den Opener bilden soll.

Hermes mit dem Dionysos-Kind,
Plastik des Praxiteles (390 - 320 v. Chr.)

Kann es sein, dass diese Distanz zur Natur und zu materieller Bindung daher kommt, dass du aus den Alltagszyklen wie auch aus dem sog. Ewigen Kreislauf ausbrechen willst (Elze spricht verhalten auch davon in seinen Gedichten)? Du beschreibst ja auch immer wieder dieses Schrumpfen. Da ist die Seele wie ein leidender Hund, der an seinen eigenen alten Knochen nagt, sich selbst verzehrt, da ist ein Schrumpfen in aufgehobener Zeit, ein kleiner Werden bis zum Schwinden – ist das eher Relikt einer Art (Drogen-)Halluzination oder ein Wunsch, die Realität zu verlassen, sich zu verdünnisieren wie Anselm im Goldenen Topf von ETA Hoffmann, also eine romantische Metapher? (Atlantis?)


Meine Gedichte bestehen ja meistenteils genau daraus, solche Dinge zu umkreisen ohne sie erläutern oder erklären zu wollen. Das ist die Pointe. Es geht viel um irrationale Hoffnungen, um Geheimnisse und um nicht zu lösende Rätsel. Ich möchte gerade daraus diese Zuversichtlichkeit abschöpfen, und zwar nicht eine aus einer katharsischen, wie auch immer gearteten romantizistischen (Er)lösungserwägung, sondern viel eher eine aus dem Scheitern der Wahrheiten heraus, bis dass der Tod uns scheidet und uns gleichzeitig die berühmte Hoffnung bleibt, die zuletzt stirbt. Man könnte auch sagen, wenn ich jetzt hier rationale Antworten auf all diese Dinge parat haben wollte, Ausbrechen aus Alltagszyklen, Atlantis, Drogen, Halluzinationen, bräuchte ich ab diesem Moment eigentlich überhaupt keine Gedichte mehr zu schreiben. Es wäre nicht authentisch. Bildlich gesprochen, bin ich Anselm aus dem Goldenen Topf, der ohne eine bewusste Strategie zu haben, romantische Metaphern einzusetzen, Gedichte schreibt.


Mysterium

Mein Herz ist immer größer
geworden nicht weil
es wuchs / sondern weil in ihm
immer mehr
Herzen zu schlagen
begannen

Dieses Herz ist eine russische Puppe
eine Matroschka schlagender
Herzen geworden
bis es riß / ich sehe das erst jetzt
in der Nähe des Luftschachts
nördlich der Pathologen

wie sie alle meine stillstehenden
Herzen vor sich
aufreihen
entnommen dem einen
das zu groß
für mich geworden

Überm Mundschutz
die Pathologen starren
auf ihr Besteck

Sie wissen nicht weiter  

Das romantische Atlantisbild hat bei dir ja ein konkretes Pendant: Amerika.
Du bist in Waco geboren, dann nach Deutschland gekommen, hier herrscht eine ganz andere Lyrik vor, was verbindest du mit den USA? Welche Einflüsse siehst du in der amerikanischen Lyrik für dich?


Naja, ich war ja nicht lange in den USA, es hat aber womöglich tatsächlich gereicht, um mich mit dem US-Lyrikvirus zu infizieren und es mit über den großen Teich zu nehmen. Doch, es ist schon so, die amerikanische Lyrik steht mir näher. Sie ist narrativer, Lakonie und Pathetik halten sich unangestrengter die Waage. Dadurch kommt in das Pathetische, zu dem ich ja einen gewissen, aber gedämpften Hang habe, etwas Selbstverständliches, sie ufert nicht so sehr in diesen hohen, getragenen Ton aus wie in der deutschen Lyrik. Ich lernte durch die Amerikaner die Lyrik sowieso eher als Soundtrack, als Begleitmusik zu meinem Leben schätzen, wie es vielleicht die heutigen Siebzehnjährigen mit ihrer Musik auf dem I-Pad erleben. Ohnehin ist meine Art zu dichten, Schichten von Musik aufs Papier zu packen. Ich hatte eigentlich nie diesen akademischen Zugang, bei dem man ein Gedicht als „Aufgabe“ begreift, durch die man „durchsteigen“ muß. Es war eher ein Erweckungserlebnis, festzustellen, dass es, anders als in diesen rilke- und hölderlingetränkten Schulbüchern (wobei das Hölderlin und Rilke wahrscheinlich eh genauso sehen würden), gegenwärtige, junge Leute gab wie eben Ginsberg, Creeley, Corso, Snyder oder Ferlinghetti,  die so unmittelbar und lebensdurstig und atemlos waren. Und die sich ungeniert selbst mystifizierten und erhöhten, und, weil sie keinen Rang in der Gesellschaft besaßen, sich einfach selbst einen gaben. Und die mit einer enormen Bildungssehnsucht trotzdem völlig unakademisch lebten und schrieben.




Allen Ginsberg

Howl
For Carl Solomon

I

      I saw the best minds of my generation destroyed by
             madness, starving hysterical naked,
      dragging themselves through the negro streets at dawn
             looking for an angry fix,
      angelheaded hipsters burning for the ancient heavenly
             connection to the starry dynamo in the machin-
             ery of night,
      who poverty and tatters and hollow-eyed and high sat
             up smoking in the supernatural darkness of
             cold-water flats floating across the tops of cities
             contemplating jazz,
      who bared their brains to Heaven under the El and
             saw Mohammedan angels staggering on tene-
             ment roofs illuminated,
      who passed through universities with radiant cool eyes
             hallucinating Arkansas and Blake-light tragedy
             among the scholars of war,
      who were expelled from the academies for crazy &
             publishing obscene odes on the windows of the
             skull,
    (usf.)

Du wolltest, sagt Armin, eventuell mit ihm zusammen Howl von Ginsberg neu übersetzen. Warum ist klar. Aber warum zieht es dich weniger zu Jack Kerouac hin (du spürst doch wie er den Wunsch nach Licht und Herausbrechen aus dem Zyklus Morgen – Nacht, geboren werden und sterben wie er)?


Stimmt. Stimmt alles. Armin Steigenberger und ich haben vor ein paar Monaten ein einig-emsig-entrüstetes E-Mail-Gespräch geführt über die Verfilmung von „Howl“, die damals im Fernsehen lief. Da ging uns beiden die deutsche Synchronisation mächtig auf den Zeiger. Uns fielen auch sofort alternative, bessere Zeilen und Verse zu den gängigen Übersetzungen ein, solche, die auch der Musikalität – man höre sich nur einmal das siebenundzwanzig Minuten lange Gedicht „Howl“ von Allen Ginsberg himself gelesen an – viel gerechter werden könnten. Ich wäre schon froh, wenn es uns gelänge,  dieses Projekt umzusetzen, zumal eine deutsche Ausgabe von „Howl“, glaube ich, momentan sowieso nur noch im Antiquariat erhältlich ist.
Und richtig, Jack Kerouac. Das hast du sehr gut erkannt, der steht mir tatsächlich am nächsten. Aber ich finde ihn eben in seiner Lyrik nicht so glücklich. Kerouac ist einer der zwei, drei Autoren, dessen Bücher (mit den albernen deutschen Titeln im Rowohlt-Verlag) ich mehrmals gelesen habe, ich glaube drei bis viermal „On The Road“, „Desolation Angels“ und „The Dharma Bums“  und so weiter, weil er der Chronist dieses lyrischen Aufbruchs damals in den Staaten war, ich habe ihn ähnlich empfunden wie Henri Murgers in Frankreich viel früher erschienenes Buch „La Vie de la Boheme“, das ich ungefähr zur gleichen Zeit gelesen hatte. Die Magie Kerouacs liegt in seiner Aufrichtigkeit, in der lupenreinen Wiedergabe eines Lebensgefühls zwischen Bildungshunger, Musik, Exotismus, Spiritualität, Drogenexperimenten, Liebe, Rausch, Unterwegssein und Armut. Eine charmante Form also von völlig authentischem Romantizismus in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, nachdem er sich von dem Einfluss Thomas Wolfes gelöst hatte, diesen aber quasi mit hinüberbettete in die nächste Generation mit dem Buch „The Town and the City“, das stark angelehnt ist an „Schau heimwärts, Engel“. Aber genau dieses Authentische fehlte ihm dann bedauerlicherweise in seiner Lyrik, zum Beispiel in „Mexico City Blues“, dort wurde er eher ausufernd, es enthält über 200 „Chorusse“, ziemlich kitschig-sentimentalkatholisch, da schlich sich so eine Art psalmodierende Gewolltheit ein. Eine „Bruder-ich-setze-dir-ein-Denkmal“-Attitüde. Kerouac war eben kein Lyriker, er war ein Romancier, aber da gehört er unbestritten zu den Klassikern. Ihn zu lesen ging für mich gerade deswegen wohl weit über die reine Lektüre-Erfahrung hinaus, seine Bücher waren zwar nicht die, die mich zum Schreiben inspirierten, sondern, vielleicht stärker, direkt zu einem (merkwürdigen) Lebensentwurf führten, beispielsweise als ich als Erntehelfer in der Weinlese an der Ahr schaffte, da hatte ich Kerouac vor Augen, weil der ja auch als Erntehelfer in den Baumwollfeldern gearbeitet hatte, und ich habe in der Folge einen Haufen solcher bescheuerten Gelegenheitsjobs gemacht, ohne an ihnen zu verzweifeln, wahrscheinlich auch in Zukunft (?), ohne mich ausgebeutet zu fühlen, sondern, im Gegenteil, mit gänzlich autark-stolz- romantischer Motivation und Geste ließ ich mich selig unterbezahlen, immer diese kerouaceske hintersinnige, buddhistische Lebenswachheit im Blick, dieses Unabhängigkeitsgefühl. Überall Zeichen und Spirituelles und der Wunsch, ein Schicksal zu sehen. Kerouac ist für mich deshalb so was wie ein Leitfaden zur Überhöhung des Daseins innerhalb der sogenannten „Lebensuntüchtigkeit“, die ihn in St. Petersburg / Florida mit sechsundvierzig Jahren das Zeitliche segnen ließ aufgrund des Alkohols wohl, während ich es jetzt immerhin doch schon auf neunundvierzig gebracht habe und mich deshalb im glücklichen Zugabemodus befinden kann. Man kann vielleicht sagen, „On the Road“ ist ein Trostbuch.


Allen Ginsberg (1925 - 1997),  Jack Kerouac (1922-1969)







Jack Kerouac

241st Chorus

And how sweet a story it is
When you hear Charley Parker
tell it,
Either on records or at sessions,
Or at offical bits in clubs,
Shots in the arm for the wallet,
Gleefully he Whistled the
perfect
horn
Anyhow, made no difference.

Charley Parker, forgive me-
Forgive me for not answering your eyes-
For not having made in indication
Of that which you can devise-
Charley Parker, pray for me-
Pray for me and everybody
In the Nirvanas of your brain
Where you hide, indulgent and huge,
No longer Charley Parker
But the secret unsayable name
That carries with it merit
Not to be measured from here
To up, down, east, or west-
-Charley Parker, lay the bane,
off me, and every body

Warum Raymond Carver? Im Vergleich zu all den anderen der Beatgeneration?

Raymond Carver kann man, soviel ich weiß, nicht unbedingt der Beatgeneration zurechnen, jedenfalls nicht dem Inner-Circle. Er ist 1938 geboren, lebte bis 1988, als er an Lungenkrebs starb. Ein Klassiker wurde er auch eher durch seine Short-Stories, als Lyriker stand er nie so sehr im Fokus. Ich habe irgendwann im Radio ein Gedicht von ihm gehört, ich glaube, von Christian Brückner gelesen. Da dachte ich, mich trifft der Schlag, weil ich nicht nur einen musikalischen Gleichklang zu meiner Art des Schreibens feststellte, sondern auch ähnliche Plots. Ich habe mir sofort die Gesamtausgabe seiner Lyrik bestellt, „All Of Us – The Collected Poems“ und wurde süchtig danach, habe vieles direkt, im wahrsten Sinne des Wortes, für mich übersetzt und tue es immer noch. Und je mehr ich mich mit Carver beschäftigte, desto erstaunlicher wurde er für mich, ein „Wahlverwandter“, wie er es selber zwischen sich und Anton Tschechow wahrgenommen hatte. Diesbezüglich teile ich auch seinen Hang zu Tomas Tranströmer, zu dessen Lyrikverständnis und Lebensentwurf, und auch diese Unentschiedenheit zwischen Erzählung und Gedicht. Es gibt in meiner Schublade einen Erzählungsband mit dem Arbeitstitel „Die Archivare der Unfallkreuze“, der deswegen entstanden ist, weil er ausuferte, weil es nicht geklappt hat, aus diesen Themen Gedichte zu machen. Und umgekehrt gibt es Erzählungen, die ich schreiben wollte, die koitus-interruptus-mäßig dann plötzlich eher ein Gedicht wurden. Aber auch beides: zum Beispiel existiert ein Gedicht von mir mit dem Namen „Wiedergänger“, welches vor ein paar Jahren in der [SIC!]-Literaturzeitschrift veröffentlicht wurde und gleichzeitig die Einleitung zu einer Erzählung darstellte mit Namen „Großes Kino Schenk“, welche in der Frankfurter Zeitschrift „Zeichen &Wunder“ im selben Jahr Eingang fand. Genau dasselbe ist Carver auch wiederfahren, deshalb auch diese Aussage von ihm, die auch für meine Art des Schreibens sehr programmatisch ist: „Immer wünschte ich mir eine umfassendere Form, die weder zu sehr Poesie noch zu sehr Prosa sei und die Verständigung erlaubte, ohne irgendwen, Autor oder Leser, dem Druck von oben auszusetzen. Im Wesen der Poesie liegt etwas Unanständiges: in uns entsteht etwas, um das wir nicht wussten, und wir blinzeln, als spränge ein Tiger aus uns heraus, der nun im Licht steht und mit dem Schweif schlägt.


Raymond Carver (1938 - 1988)

Winter Insomnia

The mind can’t sleep, can only lie awake and
gorge, listening to the snow gather as
for some final assault.

It wishes Chekhov were here to minister
something – three drops of valerian, a glass
of rose water – anything, it wouldn’t matter.

The mind would like to get out of here
onto the snow. It would like to run
with a pack of shaggy animals, all teeth,

under the moon, across the snow, leaving
no prints or spoor, nothing behind.
The mind is sick tonight.


Raymond Carver: aus dem Gedichtband "Fires", 1983

Die Winterschlaflosigkeit

Sie findet keinen Schlaf, die Seele, kann nur daliegen, hellwach
sich zermartern, lauschen auf den Schnee, der sich ansammelt
zu etwas wie einer letzten Schlacht.

Sie wünscht Tschechow wäre hier, sie zu umsorgen
mit irgendwas – drei Tropfen Baldrian, ein Glas
Rosenwasser – was auch immer, es wäre nicht wichtig.

Sie würde gern fliehen von hier, die Seele,
in den Schnee. Sie würde am liebsten verschwinden
mit einem Rudel zotteliger Tiere, ein Rudel aus Zähnen,

unter den Mond, über den Schnee, keine
Abdrücke oder Spur hinterlassen, gar nichts.
Die Seele, sie ist krank heute Nacht.


Ins Deutsche übertragen von Dominik Dombrowski



Du hast studiert Philosophie und Germanistik, und man spürt so deine Bildung heraus (z.B. in der Erwähnung "hier unten das Ich, dort oben in weiter Ferne der Stern" - Mallarmé), du sprichst immer ganz beiläufig von metaphysischen Dingen, kaum zu bemerken, und doch ist stets die Nähe da. Ist das Absicht, oder interpretiere ich das bloß hinein? (Z.B. die Blüte, die immer kleiner wird, inversiv wie eine Krebsgeschwulst, dunkle Materie sozusagen).


Die Bonner Universität, an der ich studiert habe, war größtenteils für mich bedeutungslos, bestenfalls zweitrangig. Dazu kommt, sie war zu dieser Zeit, in den frühen Neunzigern, eher eine Hochburg des Kant-, Leibniz- und Hegelidealismus, ich weiß nicht, wie es heute ist. Für mich waren aber Nietzsche, Wittgenstein und Camus ausschlaggebender. Diese habe ich dann parallel zuhause sozusagen studiert, oder im Café oder in der Stadtbücherei oder auf der Hofgartenwiese oder beim Hinunterfallen vom Barhocker, denn die Welt ist alles, was der Fall ist, Kalauer, sorry. Sonst war es meistens ein Slalomlauf durch das mich deprimierende Vorlesungsverzeichnis, das gelb und miefig und mit einem Wappen versehen in den Buchhandlungen rumlag, ich glaube, jetzt in den Bachelor, Master- und Modul-Zeiten ist es blau geworden. Ich fand aber glücklicherweise zum Beispiel ein paar Camus-Seminare bei den Pädagogen, die ich mir bei der Philosophischen Fakultät dann habe umständlich anerkennen lassen müssen. Ich erinnere mich auch, wie ich aus einem Benn-Hauptseminar, an dem ich wirklich aufrichtig interessiert war, verwiesen wurde, wegen der Feuerschutzbestimmungen, deswegen, weil ich mich nicht rechtzeitig angemeldet hatte, dafür durften aber dann so ungefähr zwanzig gänzlich an Gottfried Benn uninteressierte Kommilitonen daran teilnehmen, die sowieso nach zwei Wochen nicht mehr gekommen wären. Aber richtig ist, ich finde es mittlerweile geradezu idiotisch, nicht metaphysisch zu denken: man beraubt sich damit im Grunde gewissermaßen einer Lebensqualität. Ich finde es eher tröstlich, Gespenster zu sehen. Ich habe ein Fáible dafür, in meinen Gedichten Alltagsgeschichten zu erzählen, die plötzlich in eine Paranormalität ausarten, die in einem Geheimnis versinken und dort ohne Erklärung verharren. Oder ich statte eben meine Protagonisten mit der Sehnsucht danach aus, wie etwa in „Offroad“, wo ein Schicksal angerufen wird, dass sich an einer Tankstelle ereignet, wo sich plötzlich Portale öffnen könnten, direkt in eine indische Totenstadt hinein. Dabei geht es um ein gewisses Timing bei der Frage des Jenseitigen zwischen Leben und Tod. Das bloße Nichts, das Un-Ungeheuere, wenn du so willst, ist für mich das eigentlich Grauenhafte. Ähnlich ist es bei dem „Stagnieren-Können“ als eine Art „Spieluhrgeschehen“ im Gedicht „Schneekönig“. In Dante Alighieris Göttlicher Komödie befinden sich Dichter, Philosophen und Wissenschaftler aus vor- und außerchristlichen Kulturen im Limbus, der der Hölle vorgelagert ist. Ich glaube fest an diesen Limbus, den Verlust der Gottesschau, aber zugleich an eine rein natürliche Glückseligkeit. Gäbe es ihn nicht, würde ich ihn mir auf jeden Fall einreden wollen.



















"1.     Die Welt ist alles, was der Fall ist.
1.1     Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen,                nicht der Dinge.
1.11   Die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt und
         dadurch, daß es alle Tatsachen sind.
1.12   Denn, die Gesamtheit der Tatsachen bestimmt,
         was der Fall ist und auch, was alles nicht der            Fall ist."

(Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Anfang.)




"schon ob der Feststellung der Versäumnisse / etwa
                           dass es vielleicht mehr in der Welt
hätte geben können / als die Angst in ihr / zuletzt                                   noch könnte man auch nur

mit etwas Konzentration für immer / hinter dieser
                           Stille überleben / man würde
nur immer kleiner werden man / würde nur immer
                           kleiner und kleiner werden /

und dann stagnieren / in einer Schneekugel / als ein
                            Spieluhrgeschehen

(Schneekönig, Ende, Finissage S. 13)

Auch machst du dich gerne lustig über die Auswüchse und Dekadenz der westlichen Zivilisation (wie passt mein Essen zur Kleidung, überall Clowns, Totenpriester der Gesellschaft, Daffy der Knallkopp).


Du meinst das „Duffyduckschutzprogramm“ im Gedicht „Aus den Angeln“. Heute ist mir folgende Geschichte passiert: Ich gehe immer gern, seit ich hier in Hausach bin, spätnachmittags zum Kinzigdamm, um dort auf einer Parkbank zu sitzen und mit Blick auf die Wälder und Wiesen noch eine zu rauchen und mir die fernen, vor sich hin kauenden Kühe anzukucken im Sonnenuntergang, das mag ich sehr. Da nähert sich mir doch plötzlich ein schon betagterer Herr in einer albernen kurzen Mickey-Mouse-Hose, fixiert mich, kommt immer dichter an mich ran, so dass ich erst dachte, will der mir jetzt eine reinhauen? Sein Gesicht ist dann fast Nasenspitze an Nasenspitze an meinem, dann weist er mit seinen Augen in Richtung seines Zeigefingers, ich folge ihm nach unten zu besagtem Finger, und sehe, wie dieser Finger fast meine Zigarette antippt, dann raunt er mir zu: „Das ist aber ziemlich ungesund!“ Im nächsten Moment zuckt er dann abrupt wieder zurück, fängt an zu lachen, hebt die Hand zum Gruß, und sagt: „Also Ade, nix für ungut!“ Und stolziert mit seinen Mickey-Mouse-Shorts von dannen. Dieses Erlebnis klammert vieles zusammen, worauf ich in „Aus den Angeln“ hinaus will. Ich bin immer sehr inspiriert gewesen von Nietzsches Dekadenzphilosophie und besonders auch dessen Ausgestaltung, zum Beispiel in Thomas Manns „Buddenbrooks“ oder im „Zauberberg“. Die Gesellschaft „verfeinert“ immer mehr und wird gleichzeitig immer infantiler. Es kommt zu einer Gleichzeitigkeit der Angst vor dem Leben und der Angst vor dem Tod. Christian Buddenbrook mit seinem berühmten Satz: „Ich kann es nun nicht mehr“, dabei hat er dieses hysterische Erlebnis, nicht mehr schlucken zu können. Das erinnert an diese Leute, die die Rauchenden an Bahnhöfen ins gelbe Viereck verbannen, aufgrund von obskuren Lebensverlängerungsschlachten, die kapitalistisch begründet sind, im Sinne einer zu optimierenden Leistungsbereitschaft für den bloß noch wirtschaftsliberalen Staat. Und auch umgekehrt - denn der sich selbst durch Genussmittel Schadende kostet ja „unser“ Geld. Im Schlepptau und gebetsmühlenhaft wird deswegen auch eine immerwährende Jugendlichkeit angestrebt und angegöttert, die Gesellschaft aus Angst möchte fit erscheinen und vernetzt und comichaft. Die Leute entwürdigen sich, verzichten auf die „gefährlichen“ Genüsse, auf jegliche Lebensqualität und denunzieren sich lieber gegenseitig, um 100 Jahre alt und mehr zu werden. Die westliche Gesellschaft macht den Eindruck von sowohl Überversorgtheit wie auch Überbesorgtheit. In einem meiner Gedichte, das für den Band „Fremdbestäubung“ vorgesehen ist – Silicon Carne – gibt es den Vers: „Aus den Kindern der Blumenkinder sind jetzt Blumenerwachsene geworden“. Das ist im Grunde genommen dieses Veggie-Day-Zeug, von dem ich letztens gelesen habe, diese Freaks, die gleichzeitig ihre Kinder zur Uni begleiten und immer noch nach einem Lebensentwurf suchen, keinen haben und deswegen ihre Kinder managen. Wusstest Du, dass es heutzutage Elterntage an den Universitäten gibt, wo die Eltern kucken können, ob‘s dem Studentenkind jetzt auch gut geht da? Es ist auffällig, dass die Leute heutzutage einen panischen, fast maskenhaften Blick haben, sie schaffen sich eine Lebensphilosophie von beinahe aggressiver, trotziger Verkindlichung, weil sie kein Vertrauen mehr ins Sterben haben. Daraus resultiert zweierlei, erstens so etwas, wie die Film- und Auflagenrekorde, die eine Figur wie Harry Potter bricht, weil er die perfekte Projektion für die „Abenteuerlichkeit“ eines nicht-erwachsenen, zauberhaften Lebens ist, das daran leidet, dass es die Sterblichkeit gibt in Gestalt seiner Eltern, und zweitens ein verzweifelter Gesundheitsfanatismus, wo man immer einen Rekord des Am-Leben-Bleibens brechen will; wo man am liebsten den Atem anhalten möchte, um das Altern und den Tod hinauszuschieben. Es geht dahin, dass die völlige Lebensfernheit als Lebensweisheit betrachtet wird, dass solch ein nicht zu erreichender Idealismus zum Ausgangspunkt erklärt wird, eine Ausnahmesituation zur Selbstverständlichkeit deklariert wird. Deswegen diese Zeilen in „Aus den Angeln“: Nun schulde ich dem Schlagergott die Miete / ich reiche dem Catwoman / an der Rezeption die Krankencard zu und in den Puppenhäusern keltert der Wein. Alle sind gerührt, wenn ein Siebenundsiebzigjähriger im Batman-T-Shirt einen Rekord in irgendwas aufstellt. Eine Leistung erbringt, die auf seiner Gesundheit beruht, die der Todes- und Verfallssorge eine tröstende Willenskraft entgegensetzt. Wenn aber ein paar achtzigjährige Hippies in Indien ein halbes Jahr lang bekifft einen gegenüberliegenden Felsen bestaunen und sagen, nächstes Jahr müssen wir mal dahin gehen, um das näher zu begutachten, versteht man das immer weniger. Die würden geteert und gefedert werden in unserer Gesellschaft, weil man ihnen eine Schadhaftigkeit am Körper der Allgemeinheit vorwerfen würde, obwohl sie meines Erachtens diesen spirituellen Schlüssel besitzen könnten, um uns zu enthysterisieren. Aber, ach Gott, da hätten die gar keine Lust dazu. Verständlicherweise.


Dominik Dombrowski als aktueller Hausacher Stadtschreiber (Foto: Möller)

Auch ist da oft versteckte Sprachkritik zu finden, sei es, wie die Leute reden, sei es Sprachkritik (z.B. in Motel) im philosophischen Sinn (absterbende Songs, ungesicherte Schrift).


Sind Gedichte eigentlich nicht immer auch versteckte Sprachkritik im Sinne der Sprachhinterfragung oder einer andauernden Sprachevolution? Aber ich verändere die Sprache ja nicht in meinen Gedichten, ich kritisiere sie auch nicht unbedingt, eher beschreibe ich vielleicht deren Fragilität und versuche gleichzeitig durch innere Melodien sie irgendwie zu überbrücken oder ihren Zauber herauszukitzeln durch das Aufzeigen ihrer Brüchigkeit. Darüber hinaus kommt es auch oft vor, dass ich Songtextzitate zur Ausmalung von Stimmungen verwende, wie in der Filmsprache zum Beispiel eines David Lynch, wie der Roy Orbisons „In Dreams“ im Film Blue Velvet eingesetzt hat, war großartig. Auch Rainer Werner Fassbinder war in diesen Sachen ein Meister. In diesem Sinne geistern durch meine Gedichte gerne Liedzeilen von Jimi Hendrix, Japan, den Rolling Stones, Lale Anderson oder Johnny Cash. Dabei möchte ich ein Mitsingen bei der Lektüre suggerieren, was dann wiederum einen mehrdimensionalen, atmosphärischen Kick im Gedicht auslösen kann.


Fotos: Hellmuth Lang

Zur „Fremdbestäubung“ – arbeitest du nicht schon lange an diesem Buch? War es nicht schon vor Finissage im Gespräch?


Fremdbestäubung“ ist schon länger der Arbeitstitel für einen Lyrikband, für den ich lustvoll und mittlerweile jahrelang Gedichte zusammentrage. „Finissage“ sollte dabei eigentlich den Auftakt-Zyklus zu diesem Buch bilden, dann hat es sich aber so ergeben, weil ich es auch vorgeschlagen habe, dass die Parasitenpresse, die ja spezialisiert ist auf diese Umfänglichkeit von vierzehn Seiten, Interesse an diesen neun Auftaktgedichten bekundete, worüber ich mich sehr gefreut habe, weil plötzlich, glaube ich, eine größere, konzentrischere Gewichtigkeit in diesen Zyklus kam, als wenn er nur eine Abteilung in einem seitenstärkeren Gedichtband geworden wäre.


Wie wird sich dieser neue Gedichtband von Finissage unterscheiden? Du sagtest in München bei der letzten Lesung, das zweite Buch werde sich verhalten wie der Ostersonntag zu Karfreitag?


Naja, während „Finissage“ ein ziemlich novembriger Gedichtband ist, der das Thema der Vergänglichkeit, der Krankheit, des Verfalls, der Todessehnsucht aus den verschiedensten Perspektiven anstrahlt, geht es in Fremdbestäubung deutlich satirischer, politischer und absurder zu. Man könnte sagen, dass in „Fremdbestäubung“ die Konsequenzen zu „Finissage“ gezogen werden. „Finissage“ beinhaltet neun tragikomische Gedichte des Abgesangs, „Fremdbestäubung“ ist die Inspiration daraus, der Aufgesang vielleicht, der nietzscheanische „Sanctus Januarius“ möglicherweise, der verkehrte Blick, den man sich dann quasi „verdient“ hat, wenn die Kulissen gefallen sind, wie es in Camus‘ „Mythos von Sisyphos“ genannt wird. Die Gedichte erlauben sich sehr viel, sind eine Art „Himmelsfahrt“ und „Narrenschiff“, es sind kritische, gelassene Gedichte, auch erotische und melancholische. Es geht um Hunde, Sex, Arbeit und Reisen aus dem Blickwinkel des Vogelfreiwerdens im 21.Jahrhundert. Der Titel „Fremdbestäubung“ ist ja ein Terminus aus der Biologie, als Fremdbestäubung bezeichnet man, laut Wikipedia, bei Pflanzen die Übertragung von Pollen einer Blüte auf die Narbe einer Blüte eines anderen Pflanzenindividuums. Bei der Fremdbestäubung wird dann das Erbgut der Mutterpflanze und der Vaterpflanze neu kombiniert. Du siehst, warum ich diesen Titel als Metapher sehr favorisiere.


Friedrich Nietzsche

Sanctus Januarius

Motto zum vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft

Der du mit dem Flammenspeere
meiner Seele Eis zerteilt,
daß sie brausend nun zum Meere
ihrer höchsten Hoffnung eilt:
heller stets und stets gesunder,
frei im liebevollsten Muß:–
also preist sie deine Wunder,
schönster Januarius!

Genua, im Januar 1882

Du schwelgst im Augenblick auf einer kleinen Erfolgswelle – die Finissage wird gelobt, jetzt wirst du in Hausach bei dem Stipendium wie ein Star behandelt? Wie fühlt sich das an?


Ach, das ist eher eine zwiespältige Angelegenheit. Schön ist natürlich, Lyriker wie José F.A. Oliver oder Thomas Rosenlöcher einmal näher kennen gelernt zu haben. Natürlich freue ich mich auch über die Aufnahme von Finissage, aber vielleicht noch mehr darüber, dass es überhaupt gedruckt worden ist, als darüber, dass es gelobt wird. Ich denke eigentlich hier innerhalb meines Stipendiums, das für mich einigermaßen überraschend kam, schon an alle möglichen nächsten Projekte, etwa, ob und welcher Verlag sich für „Fremdbestäubung“ interessieren könnte, oder: kann ich irgendjemanden für die Carverübersetzungen interessieren, oder halte ich den Termin für dieses Lektorat für einen Fantasyroman ein, der hier gerade auf meinem Schreibtisch liegt? Dann sind da auch noch so zwei, drei Rezensionen zu machen. Solche Sachen. Das Gute ist: 2013 scheint, dem Himmel sei Dank, vorläufig mal in trockenen Tüchern zu sein, aber was dann nächstes Jahr wird, keine Ahnung.


KK



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