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Dieter Kühn: Schnee und Schwefel

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Timo Brandt

Ein schmales lyrisches Werk voller Lebensabschnittsfresken

„Sprung ins Wasser, kurze Blindheit.
Wieder Bojen, Segel, Dörfer.

Mein Körper tauchte in den See
mit elf, mit zwölf, mit neun und zehn.
Das Wasser mehrfach ausgetauscht:
Zufluss Ammer, Abfluss Amper.

Sommerdörfer. Segel, Flirrlicht.
Untertauchen: Grün wie damals.“

Dieter Kühn, verstorben im Sommer 2015, war vor allem bekannt für seine historisch grundierten und fundierten Erzählungen und Romane (sein Buch „N.“ über die unterschiedlichen Richtungen, die der Lebensweg Napoleons hätte nehmen können, wurde einmal als „verhinderter Bestseller“ bezeichnet), sowie für seine Nachdichtungen von bekannten Werken mittelhochdeutscher Dichtung wie etwa „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach. Seine Biographie „Ich Wolkenstein“, über den deutschen Liedermacher, Dichter und Weltbürger Oswald von Wolkenstein, halte ich persönlich nach wie vor für einen Geniestreich.

Der S. Fischer Verlag hat mit „Schnee und Schwefel“ eine, vom Autor vor seinem Tod noch einmal neu zusammengestellte, Neuauflage von Kühns einzigem Gedichtband herausgebracht (erschien damals noch beim Suhrkamp Verlag). Das Buch ist gegliedert in mehrere Zyklen, die jeweils bestimmte Lebens-abschnitte oder Themen umkreisen – beginnend mit einem Zyklus über eine Amerikareise.

„Ein ausgefranster Mantel: alte weiße Frau,
in beiden Händen das Tablett mit Tüte,
sie stellt es auf den Tisch des Wächters.
Sie sprechen. Seine Schneidezähne fehlen.
Er suckelt milk-shake, sie kaut Fritten.“

Schon in diesem ersten Teil wird Kühns Art der lyrischen Diktion deutlich, die er zwar im weiteren Verlauf variiert und auch bricht, aber sie bleibt die Basis, auf der die meisten seiner Gedichte aufbauen: schnelle Anstriche, klare Bilder und Aussagen, die sich zu einer Art Sing-Sang einpendeln.

Verdichtende und nachvollziehende Elemente wechseln sich ab. Sorgfältig geschichtet wirken die Texte, als wäre jedes Wort ein Ziegel und langsam bauen sie einen Moment auf, bis nicht nur ein Eindruck, ein Bild da ist, sondern eine ganze Atmosphäre. Im Folgenden Beispiel kann man das gut beobachten. Zunächst ein Bild, dann Bewegung, Temperatur, Blickverschiebung, mehr Bewegung, dann Ton, dann eine ganze Situation Anno 1979.

„Belgische Raketenbasis.
Erika und Birken. Weiden.
Sonne. Wind. Sehr weiße Wolken.
Etwa tausend Radler kommen.
Mein Stimme: sehr vergrößert
und: recht klein in dieser Weite.“

Ich muss zugeben, dass ich diese Art von Gedicht (und des Gedichteschreibens) zunächst nicht sehr reizvoll fand; sie hat etwas Routiniertes, Methodisches. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass oft ein gewisser Sog entsteht, eine subtile Kraft in diesem langsamen Aufbau steckt.

Außerdem zeigte sich bald, dass Dieter Kühn durchaus noch andere Spielarten des Gedichtes beherrschte und ausprobierte. Spielarten im wahrsten Sinne des Wortes, denn in diesen anderen Gedichten geht es mitunter sehr verspielt zu. Ein erster Anflug davon ist bereits im letzten Gedicht des Amerika-Zyklus enthalten, das „Rückflug“ heißt und dessen Fokus zwischen der unten vorbeiziehenden Landschaft und einem Artikel in einem Boulevardblatt hin und her springt.

„Bildbericht:
Catherine Bach,
langbeinig, hohe Backenknochen,
hat »tits and ass«-Rollen
abgelehnt.

Felsformationen schwarzbraun,
schrundig aufgeplatzt in trockener Hitze.
Sand bis zum Horizont.“

In den folgenden Zyklen, die unter anderem während eines Stipendium-Aufenthalts entstanden sind oder die Landschaft der Kindheit zum Thema haben, wechselt sich die oben beschriebene und bewährte, teilweise geradezu ins Registrierende abdriftende Methodik, mit kleinen Variationen ab, Ausprobiertem und Illustrem.

So gibt es ein Gedicht, in dem Kühn die Absurdität einer erotischen Szene aus den Aufzeichnungen von Bettine von Arnim, zwischen ihr und Johann Wolfgang von Goethe, aufgreift (die Aufzeichnung existiert in vier Fassungen):

„Ja, Goethe küsste im August,
in Teplitz, Töplitz, Tepelitz,
und die er küsste, schrieb das auf
nach zwanzig, fünfundzwanzig Jahren
in Fassung eins bis Fassung vier:“
[…]
er küsste sie in zwei, drei, vier,
und schob beim Kuss die Zunge vor:
so schrieb Bettine, Fassung eins,
kein Züngeln mehr in zwei und drei,
er küsste schwitzend, Fassung vier“

Diese Arbeit der Wiederholung, die sich hier aus der Natur der Geschichte ergibt, scheint Kühn danach fürs eigene Schreiben entdeckt zu haben; immer wieder wird danach in dem ein oder anderen Gedicht mit dezenten, strukturierenden Wiederholungen gearbeitet, was dem Sing Sang der Texte noch mehr zupass kommt.

Ein Beispiel hierfür ist ein Gedicht aus einem Zyklus, der sich mit der Angst vor einer Krebserkrankung auseinandersetzt (schließlich erweist sich die Wucherung als gutartig, eine Diagnose, die in einem geradezu ekstatischen Gedicht besungen wird). Das lyrische Ich, mit seinem möglichen Ableben, und dadurch mit seinem Dasein, konfrontiert, auf dem OP-Tisch liegend, kurz vor der Narkose, erinnert sich an eine Geschichte, die es einmal gelesen hat: von einem Mann, der von einer Kutsche überfahren wurde und, während er im Krankenhaus liegt, zu seiner Frau, die am Bett sitzt, redet, ununterbrochen:

„Ich liebe dich. Liebling. Meine Liebe.
Paar, von dem ich gelesen habe,
Paar, das lange zusammenlebte,
Reisen, Kinder, Freunde, ein Haus:
Ich liebe dich; meine Liebe; liebe dich;
Liebling; meine Liebe; ich lieb dich.
[…]
Wörter, in zwanzig Jahren nicht ausgesprochen,
brachen aus ihm heraus.“

Das Gedicht „Sprachbetäubung“ steigert sich in die Wiederholung hinein, während sowohl das lyrische Ich, als auch der Mann in der Geschichte, langsam wegdämmern, erlahmen im Reden und im Denken, der eine betäubt, der andere sterbend.

„Schnee und Schwefel“ hat einen eigensinnigen Charme und es gibt hier einige Juwelen zwischen allerhand Gelegenheitsarbeiten, die zwar auch ihre Klasse haben, aber nicht unbedingt Begeisterung hervorrufen. Es ist dennoch sehr schön, dass der Fischer-Verlag auch kleinere lyrische Gesamtwerke (wie auch schon bei W. G. Sebald oder Wolfgang Hilbig – wann kommt endlich die von Lars Gustafsson!) herausbringt. Bei Kühn sieht man wieder einmal, dass dabei durchaus Kleinode gerettet werden.

„Schnee –
noch immer kindheitsweiß.

Schwäne sitzen auf, im Schnee;
fern ein Hund, nun doppelt schwarz:
delirierend weit die Fläche!

Eis –
noch immer schlitterglatt.“
Sprachbetäubung

Dieter Kühn: Schnee und Schwefel. Gedichte. Frankfurt a.M. (Fischer E-Books) 2017. 112 Seiten. 15,00 Euro (Kindle-Edition 12,99 €).
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