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Dennis Mizioch: Referendum

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Dennis Mizioch

REFERENDUM


Sie hat so lange mit ihrem Haar gespielt, dass jetzt der Nacken frei liegt. Nimmt einen Schluck Apfeltee und lächelt zu Boden. Dann zuckt sie mit den Schultern, fängt an zu lachen und fixiert mich mit ihrer schüchternen Neugier. Ich würde ihr gerne sagen, dass ich es mag, wie die roten Locken um ihren Kopf tanzen. Aber ich weiß nicht, wie. Ich würde sie auch gerne umarmen, weil sie so viel zerbrechlicher wirkt als sie aussieht, und weil ich gar nicht mehr das Gefühl habe, dass dort ein fremder Mensch vor mir sitzt. Stattdessen nehme auch ich einen Schluck aus der Tasse und denke darüber nach, wie unheimlich groß dieser Tisch geworden ist, der zwischen uns steht. Als wir uns vor ein paar Stunden dort niederließen, erschien mir seine Größe noch angemessen, schließlich kannten wir uns kaum. Jetzt wünschte ich, der Tisch könnte sich der steigenden Nähe anpassen und so lange schrumpfen, bis sich unsere Knie berühren. Aber vermutlich ist dieser Tisch das einzige in Istanbul, das sich nicht verändert.

Während ich rede, schnappt sie sich manchmal einen der Fresszettel, die sie wie Schatzkarten in ihrem Rucksack hortet, und schreibt mit. "Wieder ein neues Wort gelernt", lächelt sie dann, und zeigt mir ihre Errungenschaft. Auch mir hat sie einen solchen Zettel vermacht, mit türkischen Wörtern darauf.

Buchhandlung = kitabevi, direkt übersetzt: Haus des Buches. Dort befinden wir uns gerade, alman kitabevi, und trinken Tee, während Kafka, Rilke und Perutz auf uns herabstarren.

Rot = kırmızı, wie ihr Haar, und wie der Tee, und wie der Evet-Schriftzug, der als riesiges Banner an der gegenüberliegenden Hauswand hängt. Evet. Ja. Auch ihre Augen sagen evet, wenn wir uns ansehen. Und meine Augen? Sagen mir nichts.

Auf der Istiklal bricht ein kleiner Tumult aus. Eine Polizeisirene ertönt, einige Menschen rufen etwas. Es wird lauter, und immer mehr Geräusche schwappen durch das offene Fenster zu uns herein. "Was ist da los?", frage ich, und bemerke gleichzeitig, dass es mich überhaupt nicht interessiert, zumindest nicht in diesem Moment. Und außerdem, was kann passieren - was kann hier, in dieser kleinen Buchhandlung passieren, in der auf dem riesigen Bildschirm Fotos vom Brandenburger Tor gezeigt werden, von Heidelberg, von Schloss Neuschwanstein; hier, wo sie mich so ansieht, was kann uns hier schon passieren? Auch sie hat es begriffen: zuckt gleichgültig mit den Schultern, lacht, und fragt mich nach meinem Lieblingsgericht. Spielt mit ihrem Haar. Tamam.

*

Abends türmen sich die Mülltüten vor den Hauseingängen. Man nimmt die Überreste des Tages, verknotet sie fest und schließt sie aus. Überlässt sie den Hunden und Katzen. Man zieht die Gardinen zu, schaltet die Nachttischlampe an und dämmert in den Schlaf, den nächsten Tag. Früh morgens, oft vor dem ersten Adhān, holt die Müllabfuhr alles ab. Oder besser: fast alles. Zwar sind die Mülltüten dann weg, aber meist weht der Wind noch Plastikverpackungen durch die Gassen, die von den Tieren verschleppt oder einem unachtsamen Müllmann übersehen worden sind. Für diese Überreste der Überreste gibt es eigens einen Angestellten, der mit einem Besen, einer Kehrschaufel und dem Sonnenaufgang die Straßen abläuft. Er fegt Müll auf seine Kehrschaufel, läuft bis zum Ende der Straße und schüttet ihn in die Blechmülltonne vor dem Fußballstadion. Geht den ganzen Weg zurück und fegt erneut Müll auf seine Kehrschaufel, läuft zum Fußballstadion, wieder zurück, und alles wieder von vorne. Weil diese Schaufel ziemlich klein ist, und die Menge an übrigem Müll ganz schön groß, ist er oft bis zum Mittag mit Fegen beschäftigt. Sobald ich von der Schule heimkomme, ist also alles sauber.

Neuerdings ist der Müllfeger etwas nachlässig geworden, würde der ein oder andere es ausdrücken. Die Plastikverpackungen schüttet er nach wie vor in die Blechtonne, aber wenn ich von der Schule nach Hause komme, liegen vereinzelt Blätter auf der Straße. Bunt bedruckt, etwa alle 10 Meter eines, als hätte er die Schritte dazwischen abgemessen. Einige sind vom Regen gewellt, andere plattgetreten, manche fliegen mit dem Wind. Hayır, nein, steht auf jedem davon. Kein schweres Wort, ich habe es in der ersten Stunde meines Türkisch-Kurses gelernt. Viele Wörter liegen auf den Straßen, zurzeit. Und nicht nur auf den Straßen. Sie bedecken Hauswände, schweben über dem Boden, ringen in Köpfen, dröhnen aus Lautsprechern, rennen über Leinwände. Auf dem Platz vor der Yeni Moschee gibt es einen Standpunkt, an dem zwei Wörter miteinander verschmelzen, oder besser: zwei Songs über jeweils ein Wort. Rechts steht ein Lastwagen, links steht ein Lastwagen. Beide spielen laute Musik. Vor beiden Wägen stehen Menschenmassen und tanzen. Geht man zu dem Wagen, auf dem Evet, auf dem Ja steht, sieht man viele Türkei-Flaggen. Das liegt vermutlich daran, dass daneben ein Typ steht, der sie in verschiedenen Größen an die Menschen verkauft. Geht man zu dem Wagen, auf dem Hayır steht, sieht man nicht so viele Flaggen. Aber die werden dort auch nicht verkauft.

Ich beobachte das alles und fühle mich schlecht - ich fühle mich schlecht, weil ich diese Wörter sehe und dabei nur an das Mädchen mit den roten Haaren denken kann, und wie die Tische zwischen uns immer kleiner wurden und kleiner, bis wir uns schließlich auf der Istiklal zum Abschied umarmten und nichts mehr zwischen uns stand, nicht mal ein Wort. Und wie wir mit aneinandergepressten Wangen zueinander fanden, wie wir es schafften, alles auszublenden bis auf uns. Aber seit ich ihre Hand losließ, seit wir uns im Auseinandergehen bis bald zusprachen, wuchsen die Wörter wieder. Tausende, Millionen von Wörtern zwischen uns, Evet und Hayır, aus allen Richtungen, wie der Regen hier aus allen Richtungen kommt. Und ich habe keinen Kommentar zu diesen Wörtern, ich kann sie nur beobachten und meine Pauschalantwort auf alles murmeln: Sevmek, lieben, es spielt keine Rolle, wen oder was. Sevmek, sevmek, sevmek, bis sich alle Wörter - im Guten - auflösen. Den Müll rausbringen und schlafen.

*

In einer Millionenstadt einen Menschen zu sehen, an den man gerade denkt, ist eigentlich ein riesiges Geschenk. Kein besonders schön verpacktes vielleicht, wenn man weiß, dass man diesen Menschen das letzte Mal sieht. Aber was weiß man schon, vermutlich ist auch das nur ein Konstrukt, das wir uns schaffen, um eine persönliche Geschichte so ästhetisch wie möglich abzuschließen. Ich sitze mit Andi auf der Terrasse eines Cafés in Beşiktaş, als ihr roter Lockenschopf aus einem Klamottenladen lugt. Wippendes Haar, selbstsicherer Gang, der rote Eastpack-Rucksack, der sie mir so sympathisch gemacht hat, ohne den sie sich, wie sie einst sagte, schutzlos fühlt, mit dem sie stets auf Reisen geht. Und heute in Beşiktaş, zwei Tage nach unserem letzten Gespräch, in dem die Worte zwischen uns aushärteten wie Zement, sehe ich sie. Trinke einen Schluck Türk Kahvesi, dessen zähflüssiger Satz mir die Zunge mehlig macht. Und dann dreht sie sich um, als hätte sie meinen Blick bemerkt. Nein, als hätte sie meinen ganzen Gedanken gehört, als hätte ich ihr hinterhergeschrien. Mustert die Straße, schaut nach einem bekannten Gesicht. Ganz kurz schweift ihr Blick sogar auf die Terrasse, auf der wir sitzen. Dann wendet sie sich wieder nach vorne und geht weiter. Roter Rucksack, rotes Haar, bis sie um eine Straßenecke biegt und für immer verschwunden ist. Vermutlich.

Soll ich ihr doch noch mal schreiben? Evet oder Hayır, Hayır oder Evet? Im Fernsehen werden gerade die Stimmen ausgezählt. Grafiken schießen aus dem Boden, animierte Prozentverteilungen. Zwei Moderatoren geben sich gegenseitig das Wort in die Hand, im Newsticker wird eingeblendet: "Die Türkei vereint sich unter dem Ja." Und alle paar Minuten ändert sich das Ergebnis. "Das wird nichts mit euch", sagt Sarah, zu einer Zeit, in der der Fernseher noch schweigt. In der ich alles verstehe, was sie sagt. In der ihre Pupillen groß wie Teller sind und wir Füchse von den Beginnern hören, hinter zugezogenen Gardinen und vergessenem Schlaf. "Das wird nichts mit euch", und ich verstehe sie. Jetzt muss Sarah lachen, weil ich türkische Namen falsch ausspreche. "Du musst die zweite Silbe dehnen. Als würde dir etwas bitteres die Kehle herablaufen." Und ich verstehe sie. Auch, wenn ich es nicht kann. Oder nicht will. Es muss nicht immer bitter die Kehle herablaufen. Oder?

Manzara, der Blick, die Ansicht. Auf der Dachterrasse ist es warm, es läuft Musik und die Bierdosen häufen sich auf dem Tisch. Die Stadt sieht heute seltsam klar aus, wenn man auf das Goldene Horn blickt. Kein Dunst, kein Glitzern, nein. Scharf gestochene Konturen. Jedes Haus tritt deutlich hervor, als hätte es sich für etwas entschieden. Lukas lacht, weil Sarah sich schon wieder in Rage geredet hat und mit dem Fluchen nicht mehr aufhört. Musa singt leise mit. Und die Dinge fühlen sich leicht an, so unfassbar leicht, wie sie es sonst nur im Sommer tun, wenn man nachts durch die Straßen schlendert. Duft von frisch gemähtem Gras. Meer aus Satellitenschüsseln. Damla erzählt mir Geschichten, die anderen übersetzen für mich. Aber es ist schwer, hinzuhören. Irgendwie flackert alles. Die Zeit, der Blick, der Ort. Ich bin schon wieder halb daheim. Oder woanders. Wie nimmt man Abschied von Menschen, die einem immer im Kopf bleiben werden? Vielleicht muss man das gar nicht. Es gab viele solcher Tage. Die Fenster offen, der Schrottsammler ruft durch die Straßen. Kinder schreien vergnügt, die Nachbarin putzt ihren Balkon. Duftender Kaffee. Gestern ist etwas mit uns passiert, zumindest sagen das die Nachrichten. Aber gestern war eigentlich ein sehr normaler Tag. Ich habe mir Chips gekauft und sie gegessen. Ein Sandwich gemacht. Einen kleinen Spaziergang. Gut - die Polizei war nicht auf der Istiklal, was ein wenig seltsam war, weil ich mich dadurch sicherer fühlte als die Wochen davor. Aber sonst? Eine Auszählung. Es war ungewöhnlich heiß, tagsüber. Der Schnapsladen hatte geschlossen. Und es war Ostersonntag. Achja, am Abend lief noch laute Musik. Scheinwerfer, die in den Himmel strahlten. Eine politische Rede, jubelnde Menschen. Und in Beşiktaş hörte man Töpfe klappern. Aber heute ist heute, alles längst schon vergessen. Ein bisschen Sorgen mache ich mir wegen morgen, da muss ich einkaufen gehen, und es soll regnen. Und ich habe keinen Regenschirm. Nichts, was mich vor dem schützt, was von oben niederprasselt. Ich werde ihr nicht mehr schreiben.

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