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Christoph Meissner-Spannaus: Szenen einer Rettung

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay



„Ach, dass ich nicht im Grau versinke“ -

Fünf Szenen einer Rettung


"Allein der Sozialismus gibt Eurem Leben Sinn und Inhalt.
Seid auch künftig selbstlos und beharrlich, ideentreu und ergeben
gegenüber Eurem sozialistischen Vaterland,
der Deutschen Demokratischen Republik."
(Erich Honecker)



(1)

Es war in dem Jahr, in welchem ich aus biografischen Gründen meinen Lebensunterhalt mit dem Verschieben von Krankenhausbetten von A nach B und von B nach A bestreiten musste.
Die Betten waren in der Regel leer. Gefüllte Betten zu schieben, traute man mir wahrscheinlich deshalb nicht zu, weil der unterentwickelte Reifegrad meiner sozialistischen Persönlichkeit dem entgegenstand. Nun gut, gefüllte waren um einiges schwerer und damit auch ungelenker.
Dann doch lieber die leeren. Wo aber all die leeren Betten herkamen, ist mir in der Erinnerung nicht mehr deutlich. Auf jeden Fall gab es genug davon, um die tägliche Arbeitszeit mit deren Verschiebung auszufüllen. Immer den riesigen Krankenhauskorridor entlang. Die Rennbahn erstreckte sich über zwei Stationen hinweg. Auf der Nachbarstation schob eine Kollegin, die sich in einer ähnlichen Situation wie ich befand. Unser gemeinsames Projekt: Die Herbeiführung eines künstlichen Staus auf dem viel zu schmalen Gang.
Da nur wir in der Lage waren, diesen Stau wieder aufzulösen, nutzten wir die Zeit des Stillstands, um uns auszutauschen.
Ob ich 'Mein Name sei Gantenbein' gelesen hätte? Hatte ich nicht.
Glücklicherweise konnte ich pfeilschnell mit Hesses Glasperlenspiel kontern.
Sie parierte und schob sofort den Steppenwolf nach. Es wurde eng.
Meinen 'Ansichten eines Clowns' konterte sie mit 'Homo faber'. Pattsituation.
Wir hatten uns beschnuppert und uns beide für in Ordnung befunden.
Meinen größten Trumpf allerdings musste ich auf der Hinterhand behalten, denn es handelte sich um 'Die wunderbaren Jahre' von Reiner Kunze. Ein Buch, dessen Besitz oder dessen Verbreitung strafrechtlich schwerstens geahndet wurde. Um offen darüber zu reden, hätte ich die Kollegin um einiges näher kennen müssen. Ein Anfangsvertrauen war jedoch hergestellt: Sich über Frisch und Hesse auszutauschen war in der beschriebenen Situation Offenbarung genug, handelte es sich doch dabei um Literatur, die dem Besitzer eine gehörige Portion Ausdauer und eisernen Willen bei der Erlangung derselbigen bescheinigte. Natürlich auch Glück. Gute Literatur war Mangelware und die Sehnsucht danach konnte von der gedeckelten Auflagenhöhe nicht befriedigt werden. Ein Buch war also schon vor dem Lesen wertvoll.
Zurück zu meiner Kollegin. Ihr Frisch gegen meinen Böll. Wo also liegt das Problem?
Ganz einfach. Keiner von uns beiden besaß die angepriesenen Werke.
Ein Arbeitskollege meines Freundes war der Besitzer der 'Ansichten eines Clowns'.
Und ihr Max Frisch lagerte ebenfalls zwei Freundschaften weit entfernt.
Die Vertrauenskette musste also neu geschmiedet, ein weiteres Glied hinzugefügt werden, so dass der Austausch zweier wertvoller Bücher gelingen konnte, die uns beiden nicht gehörten.
Man musste ein Buch wert sein.



(2)

Wir befinden uns immer noch in diesem Land, dessen Obrigkeit voller Argwohn das Schaffen ihrer Künstler beäugte, reglementierte, wo es irgend ging, und doch so vieles dabei übersah, so blind war in ihren Verboten und so dumm vor Angst.
Ich war stolzer Besitzer des kleinen Fischer-Taschenbuches 'Die wunderbaren Jahre' von Reiner Kunze - geschmuggelt von Bekannten aus dem westdeutschen Bücherparadies -, und ich war glücklich darüber, dieses verbotene Buch mein Eigen zu nennen.
Leider haben es verbotene Bücher so an sich, dass man sie nicht ohne weiteres als gewichtiges Tauschobjekt einsetzen kann, um an andere begehrte Bücher zu gelangen, geschweige denn, deren Besitz prahlerisch herauszuposaunen, um in den Augen der Anderen ein wenig interessanter zu erscheinen. Ein verbotenes Buch durfte noch nicht einmal offen im Bücherregal stehen. Die passende Schutzhülle eines gleichformatigen Buches musste herhalten, um für Sicherheit zu sorgen. Eine alte Zeitung tat es auch.
Was jedoch machte den Reiz dieses Buches, abgesehen davon, dass es verboten war, aus?
Eine Prosasammlung, die kritisch den DDR-Alltag widerspiegelt. War das Kunst, nur weil ich mich in der Kritik wiederfinden konnte?
Eine Geschichte daraus erzählt von Jugendlichen, die in der Nacht nach dem Besuch eines Jazzkonzertes auf dem Bahnhof einer Kleinstadt auf den nächsten Zug warten, der erst kurz vor fünf in der Frühe abfahren wird. Sie sitzen ausgelaugt und müde auf den Bänken und die Köpfe sinken jeweils auf die Schultern der Nebenmänner. Zwei Transportpolizisten rütteln die Jugendlichen wach. Wer nicht aufrecht sitzt, hat den Bahnhof zu verlassen. Ordnung muss sein. Ein wenig später treffen die Polizisten die Jugendlichen wieder schlafend an und verweisen sie also des Bahnhofs. Draußen geht ein feiner Regen. Und jetzt kommt der Satz. „Der Zeiger der großen Uhr wippte auf die Eins wie ein Gummiknüppel.“
Dieses erschreckend schöne Bild vom wippenden Gummiknüppel, das die Gnadenlosigkeit, den unsinnigen Ordnungssinn und die unmenschliche Verhaltensweise dieser Staatsbüttel zu vereinigen weiß, konnte darüber hinaus in meiner Leseart zur Metapher werden, die für all das stand, was meine Erfahrungen mit diesem Land und in diesem Land ausmachten.
Dieser Satz war Poesie. All die erlittenen Kränkungen, die wütende Ohnmacht, das Leiden an diesem System - kurzum mein Lebensgefühl, verdichtet in einem Satz.
Welch ein Trost. Eine trotzige Genugtuung durchströmte mich.
Der richtige Satz im richtigen Moment.
Nur ein Satz. Und doch viel viel mehr.
Gummiknüppel, richtig eingesetzt, können unter Umständen die Liebe zur Dichtkunst entfachen.



(3)

Und wieder geht es - wie so oft im Leben - von A nach B und von B nach A.
Eine Stunde Fahrt vom Vorort bis ins Zentrum von Leipzig.
Gelbe Straßenbahnballade? Von wegen. Ein böser Fluch lag auf allem.
Durch die trüben, schlierigen Scheiben der Bahn versuchte das draußen herrschende, allgegenwärtige Grau nach mir zu schnappen, während die qualvolle Zeitlupenfahrt der Straßenbahn immer wieder durch schnarrende Klingeltöne und das Quietschen und Scheppern der sich öffnenden und schließenden Türen zu einer kurzen Zwangspause unterbrochen wurde.
Der beißende Qualm der Braunkohleöfen, der sich in den Wintermonaten aus tausenden Schornsteinen auf die Stadt legte und als ein die Atemwege angreifender schwefliger Dunst durch die Straßen waberte, ließ die Straßenbahn zum Schutzraum werden.
Verständlich, dass jede Haltestelle und die damit verbundene Türöffnung innerlich verflucht wurde.
Äußerlich ließ man sich nichts anmerken.
Eine spezielle sozialistische Form meditativer Selbstbeherrschung? Nein.
Die versteinerten Gesichter der Fahrgäste, die trägen, ausdruckslosen Augen und die zusammengepressten Lippen kündeten vom verheerenden Sieg des Grau über alle Hoffnung und dem Verstummen der letzten, nur noch leise wimmernden Sehnsucht auf Veränderung.
Selbst das Schweigen trug einen grauen Mantel.
Die Angst hatte bereits den freien Platz neben mir in Besitz genommen und ihr schwefliger Atem versuchte, mich zu betäuben.
Ach, lass mich nicht im Grau versinken.
Gegenwehr. Die Fahrt wurde wiederholt. Freiwillig. Am Nachmittag oder an freien Tagen.
Auf der vorderen Sitzbank, direkt neben dem Einstieg, saßen wir, mein Freund und ich, auf dem Kopf Baskenmützen, die über die Ohren gestülpt wurden wie Pudelmützen, die Jacken falsch geknöpft. Wir spielten Volkslieder auf der Mundharmonika, schunkelten dazu und unsere Gesichter waren von einem missionarischen Ernst getragen, der bewusst die Nähe zur Grenzbegabung suchte. Die Beine stampften den Takt.
Der Applaus: die entgeisterten Blicke der Einsteigenden.
Was hat das mit Poesie zu tun?
Es ist der Anfang.
Poesie speist sich aus einer Quelle, die weit vor der ersten schriftlichen Fixierung zu sprudeln beginnt. Sie wehrt sich gegen das Grau in den Köpfen. Mit ihren Mitteln.
Sie stampft mit den Füßen und ruft: Es werde Bunt.



(4)

Wir wurden namentlich aufgerufen und hatten uns auf der nur leicht erhöhten Bühne einzufinden, um unseren Lehrvertrag und den Mitgliedsausweis des FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) per Glückwunsch und Händeschütteln überreicht zu bekommen.
Zuvor hatte der Betriebsdirektor eine kleine Rede gehalten. Nun gelte es, ein Stückchen das zurückzuzahlen, was der Staat bisher so selbstlos in uns investiert habe, sagte er. Die Schulausbildung und alles andere, was uns wohlbehalten hier in dieser Lehrwerkstatt hat ankommen lassen, auf dass wir nun durch herausragende Leistungen in Lehre und Beruf die hohen Ideale unseres Arbeiter- und Bauernstaates, die humanistischen Ziele, die weitere Gestaltung des Sozialismus auf dem Weg zum Kommunismus, der Direktor hüstelte und schaute bedeutungsschwanger über seine Lesebrille hinweg auf uns herab, dann hüstelte er noch einmal, womöglich um unsere Ungeduld auf die noch ausstehende Pointe des Satzes zu vervielfachen, doch die Pause schien auch ihm zu lang zu werden, er schaute irritiert auf seinen Zettel und rief um einiges lauter: „Wir begrüßen unsere neuen Kolleginnen und Kollegen.“
Der bereits in Stellung gebrachte Schallplattenspieler wurde in Betrieb genommen, und während aus den schnarrend vibrierenden Lautsprechern revolutionäre Blasmusik schepperte, versuchte ich, meine ersten niederschmetternden Eindrücke von dem Ort meiner zukünftigen Ausbildung zum Drucker zu verarbeiten. Die bröckelnde, rissige und von Einschusslöchern des Krieges übersäte Fassade des Gebäudes war der ehrliche Vorgeschmack auf das, was im Inneren auf uns warten sollte. Wie nur war ich auf die Idee gekommen, Drucker werden zu wollen?
Bevor ich jedoch ins tiefere Grübeln geraten konnte, fand ich mich schon auf der Bühne wieder.
Hier müsse es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Irrtum handeln, entgegnete ich, einer spontanen Eingebung folgend, dem Direktor, dessen große schweißige Hand ich gerade schütteln durfte. Zunächst würde ich mich nicht daran erinnern, jemals einen Aufnahmeantrag für die Gewerkschaft gestellt zu haben, sagte ich. Meines Erachtens sei dies aber erforderlich, zumal wir es ja in diesem Fall mit einer freien Gewerkschaft zu tun hätten, dafür stünde ja schließlich das 'F' im Namen. Alle Kollegen seien Mitglied in der Gewerkschaft, dies sei selbstverständlich, entgegnete der schon leicht gereizt wirkende Direktor. Ob ich mit meiner ihm recht unverständlich daherkommenden Nachfrage die Ziele der Gewerkschaft in Frage stellen wolle? Keineswegs, antwortete ich, ich sähe nur schwerlich einen Sinn darin, in einem Land, in dem die Arbeiterklasse sich selbst regiere, in dem es keine Ausbeutung gebe und keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln, Mitglied einer Gewerkschaft sein zu müssen. Wofür das gut sein solle, wollte ich wissen.
Ja, sagte der Direktor, ja, das sei … er überlegte eine Weile, dann erklärte er mir triumphierend, als Mitglied des FDGB hätte ich die Möglichkeit einen Urlaub in einem schönen FDGB-Heim zu verbringen, natürlich nach entsprechender Beantragung und Genehmigung durch die zuständigen Behörden. Getragen vom Stolz, ein so schlagkräftiges Argument gefunden zu haben, schob mich der Direktor von der Bühne.
Eine weitere Verzögerung der Zeremonie war nicht mehr tolerierbar.
Der Ausweis blieb in den Händen des Direktors und eine Woche später wurde in einem Vier-Augen-Gespräch die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft an eine erfolgreiche Weiterführung meiner Lehre gekoppelt.
Was aber hatte mich geritten, in dieser beschriebenen Situation, diese Diskussion zu entfachen, auf mich aufmerksam zu machen und mich widerspenstig zu zeigen?
Es war ein Gedicht. Es surrte in meinem Kopf. Schon die ganze Woche.
Reiner Kunze: Von der List, nach dem Mittagessen zu schlafen.
„Schlaf dir, damit dich fremder Wille nicht beugen kann, unter der Hand, die dich zwingt, einen Charakter an!“, heißt es da.
Der Sieg des Direktors aber war unvollständig.
Mein stärkstes Argument hatte ich ihm verschwiegen:
Ein Gedicht mit Charakter kann nicht gebeugt werden. Daran kann man sich halten.



(5)

Freizeitgestaltung: Büchersuche im Leipziger Antiquariat. Die Fangquote war niedrig. Ausgestattet mit den Grundtugenden eines versierten Anglers, Geduld, Hoffnung und Ausdauer, wurden Berge von Ladenhütern gewendet, immer in der Erwartung, ein von Mitkonkurrenten übersehenes Büchlein an Land ziehen zu können. Es gelang selten.
Manchmal jedoch sucht sich der Fisch seinen Angler.
In meinen Händen lag die Gedichtsammlung 'Brief mit blauem Siegel' von Reiner Kunze. Erschienen im Jahr 1973 bei Reclam Leipzig in einer Auflage von 15000 Exemplaren. Das Buch war innerhalb weniger Stunden vergriffen. Unglaublich, aber wahr.
Dieses unscheinbare Büchlein hielt ich in meinen Händen. Schnell drängelte ich mich an die Kasse und bezahlte die geforderte Kaufsumme: eine DDR-Mark.  Dabei klappte ich das Buch auf - der antiquarische Preis war mit einem Bleistift auf die Titelseite gekritzelt worden -, ich wollte vermeiden, dass der Verkäufer sieht, was er da verkauft, dieses Buch hätte nicht verkauft werden dürfen, Reiner Kunze war mittlerweile in Ungnade gefallen.
Ich schätze, nicht alle Antiquariatsmitarbeiter waren klug, oder die Klugen waren nicht immer aufmerksam. Klugheit ist ohnehin ein relativer Begriff.
Die Straßenbahnfahrt zurück nach Hause war eine Qual, sämtliche Sitzplätze waren besetzt und auf dem Gang klumpte sich die tagesmüde Arbeiterklasse. An Lesen war nicht zu denken.
Zuhause entdeckte ich, dass der Vorbesitzer dieses Büchleins sämtliche Gedichte dieser Sammlung einer persönlichen Indizierung unterzogen hatte.
In der Inhaltsangabe waren alle die Gedichte, welche in irgend einer Form auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem real existierenden Sozialismus hindeuteten, mit einem großen 'F' versehen worden. Die restlichen Gedichte hatten akribisch ein Genehmigungshäkchen erhalten. Dabei wurden wohl alle tatsächlichen sowie die vermuteten Verschlüsselungen und Doppeldeutigkeiten aufs Genaueste ins Visier genommen.
'F' wie falsch oder Fehler? Ich werde es nicht mehr herausfinden können.
Damals war mir, als drängte etwas Böses von außen in mein Buch hinein, schaffte es aber nicht über die Inhaltsangabe hinauszukommen, und war nun dort steckengeblieben. Der einäugige strafende Blick des Vorbesitzers verriet mir, dass er nichts von dem Gefühl hatte verspüren können, welches mich beim Lesen lange Zeit glücklich machen sollte.
Dass auch die leichtfertig als ungefährlich abgehakten Gedichte dem Leser Glück schenken konnten, ein Glück, aus dem die Kraft erwuchs, zu widerstehen und das Grau zu besiegen, das schien nicht Inhalt der Inquisitorenausbildung gewesen zu sein.


Christoph Meissner-Spannaus


Christoph Meissner-Spannaus, Jahrgang 1962, aufgewachsen in Schkeuditz bei Leipzig,  Lehre zum Drucker, Sprachenseminar St. Konrad in Berlin-Schöneiche, Abbruch des Studiums am Philosophisch-Theologischem Studium Erfurt nach drei Semestern, arbeitete als  Briefträger und Krankenpfleger, lebt seit 1990 in Mittelhessen, veröffentlicht im Verlag Rote Zahlen, Buxtehude, bisher erschienen:  
• Vier Gedichte in der Anthologie „Poesiefeldambulanz“, Verlag Rote Zahlen, Buxtehude 2012,
• Die geheimen Klostertagebücher, Verlag Rote Zahlen, Buxtehude 2013 (Tagebuchroman mit 39 Gedichten)
• „Ach, dass ich nicht im Grau versinke“ und „Kairos“ in: „Poetische Theorie“, Verlag Rote Zahlen, Buxtehude 2013, hrsg. von Hans-Joachim Griebe.

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