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Christine Lavant: Gedichte aus dem Nachlass

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Jan Kuhlbrodt


Lavants Masken



Im Frühjahr erschienen die nachgelassenen Gedichte Christine Lavants als 3. Band der Gesammelten Werke im Göttinger Wallsteinverlag. Ein voluminöser Band. Er enthält auf 650 Seiten ungefähr 500 Gedichte, die sich im Nachlass und in verschiedenen Sammlungen fanden.


Zustande gekommen waren die Sammlungen, weil Lavant diese Gedichte an verschiedene Adressaten verschickte. Am umfang-reichsten dabei ist die Sammlung Werner Berg. Mit dem Maler Werner Berg verband Lavant eine lange und komplizierte Liebesbeziehung. In der Zeit, die diese anhielt, wechselten Berg und Lavant natürlich auch Briefe. Briefe, die über den verzweifelten Versuch, irgendeine Ordnung in die Liebe zu bringen, weit hinausgehen und künstlerische und ästhetische Positionen darlegen und erläutern.
Deshalb steht diese Beziehung auch im Zentrum des spannenden Nachwortes der Edition. Geschrieben hat es Doris Moser.

Eingangs aber stellt es ein Verhältnis vor, das zu beleuchten einer der Schlüssel sein kann, sich eine Tür in das Werk der Dichterin zu öffnen.


Abgesehen davon, dass die Gedichte selbst schon von einer enormen Sogkraft sind, wird hier auf einen Aspekt verwiesen, der auch über die Dichtung Lavants hinaus von einiger Bedeutung ist: ein Veröffentlichen verlangt die Produktion eines Dichters oder einer Dichterin als öffentliche Person, letztlich ein Maskenspiel:


Die Teilnahme an der literarischen Öffentlichkeit bedeutete zwar, den Gedichten „Leben einhauchen“ zu können, aber es bedeutete auch die ungeschützte Konfrontation mit einer Welt, die nicht nur Wohlwollen und Anteilnahme parat hatte, und vor der es sich zu schützen galt.

Zum Auftritt der Dichterin als Dichterin gehört auch zwangsläufig deren Inszenierung.

In einer Dichtung wie der Lavants, in der der Einsatz immer das Ganze – Körper, Geist, und Seele – war, stand gerade in der Begegnung mit der (literarischen) Öffentlichkeit viel auf dem Spiel, vor allem die Dichterin selbst.


Die dichterische Sprache ist eine Maskensprache, der Dramatik verwandt, und Authentizität ist die Verkleidung des Dichters als er selbst. Ein Verbergen zweiter Ebene. Das muss dem Dichter oder der Dichterin gar nicht bewusst sein, diese Logik ist die Logik der Dichtung. Lavant war es bewusst. Wahrscheinlich auf jene schmerzliche Art, die letztlich zum Motor eines hintergründigen Humors wird.

Wer fand im Erbarmen das Wurzelwort
wer fügte es recht zur Verheißung zusammen
wer schlich hinter Gott bis zum Hungergras
und verkündigte einer Verstockten
neun tragende Monde?
Und: Wer war kein Täuscher?


Ein Engel hätte sich vorgestellt
im Namen Gottes, im Überglanz
ein Täusch-Auge wäre erloschen
beim ersten wachsamen Atemzug
der im Herzen Erwachten.

Aber noch immer sind Auge und Schau
wechselmächtig einander nah
unter verändertem Sternenbild
über gesegneten Halmen
mit schon nährendem Korn.


Nicht alle Gedichte des Bandes sind von herausragender Qualität, aber die übergroße Mehrheit ist wie dieses großartig, einzigartig, solitär.


Christine Lavant: Gedichte aus dem Nachlass. Göttingen (Wallstein Verlag) 2017. 654 S. 38,80 Euro.

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