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Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens, 10

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay


Charles Baudelaire

Der Maler des modernen Lebens

Figaro. 26 et 29 novembre, 3 décembre 1863 (F) – fertig 1860/61

Übersetzt von Werner Wanitschek


X

DIE  FRAU



Das Wesen, das für die meisten Männer eine der stärksten und sogar, sagen wir es zur Schande der philosophischen Genüsse, eine der dauerhaftesten Freuden ist; das Wesen, auf das und zu dessen Nutzen all ihre Bemühungen abzielen; dieses furchtbare und wie Gott unmitteilbare Wesen (mit dem Unterschied, daß das Unendliche sich nicht mitteilt, weil es das Endliche blind machen und erdrücken würde, während das Wesen, von dem wir sprechen, vielleicht nur deshalb unverständlich ist, weil es nichts mitzuteilen hat); dieses Wesen, in dem Joseph de Maistre ein schönes Tier sah, dessen Reize das ernste Spiel der Politik aufheiterten und leichter machten; für das und durch das Reichtümer entstehen und vergehen; für das, aber vor allem durch das die Künstler und die Dichter ihre köstlichsten Kleinode schaffen; von dem die aufreibendsten Vergnügen und die befruchtendsten Schmerzen herrühren, die Frau, mit einem Wort, ist für den Künstler im allgemeinen und für Herrn G. im besonderen nicht nur das Weibchen des Mannes. Es ist vielmehr eine Gottheit, ein Gestirn, das alle Gedanken des männlichen Gehirns lenkt; es ist eine Spiegelung aller Reize der Natur zusammengefaßt in einem einzigen Wesen; es ist der Gegenstand der Bewunderung und der heftigsten Neugierde, den das Gemälde des Lebens dem Betrachter zu bieten hat. Es ist eine Art von Abgott, dumm vielleicht, aber blendend, bezaubernd, der die Schicksale und Willen an seinen Blicken hängend hält. Es ist nicht, sage ich, ein Tier, dessen Glieder, richtig aneinandergefügt, eine vollkommenes Beispiel von Harmonie ergäben; es ist nicht einmal das Urbild reiner Schönheit, so wie es der Bildhauer in seinen ernstesten Betrachtungen zu erträumen vermag; nein, das wäre noch nicht ausreichend, um diesen geheimnisvollen und vielschichtigen Zauber zu erklären. Wir brauchen Winckelmann und Raffael nicht; und ich bin ganz sicher, daß Herr G., trotz der Ausgedehntheit seiner Kenntnisse (dies sei gesagt, ohne ihn zu beleidigen), ein Stück der antiken Bildhauerkunst verabsäumen würde, wenn er infolgedessen die Gelegenheit, ein Porträt von Reynolds oder Lawrence zu genießen, verlieren müßte. Alles was die Frau schmückt, alles was dazu dient, ihre Schönheit zu veranschaulichen, ist ein Teil von ihr selbst; und die Künstler, die sich dem Studium dieses rätselhaften Wesens besonders gewidmet haben, sind ebensosehr in diese ganze mundus muliebris vernarrt wie in die Frau selber. Die Frau ist ohne Zweifel ein Licht, ein Blick, eine Einladung zum Glück, ein Wort manchmal; doch ist sie vor allem eine allgemeine Harmonie, nicht allein in ihrem Gang und in der Bewegung ihrer Glieder, sondern auch in den Mousselinen, den Gazen, den ungeheuren und schillernden Wolken von Stoffen, mit denen sie sich umhüllt und die gewissermaßen die Attribute und das Piedestal ihrer Göttlichkeit sind; in dem Metall und dem Mineral, die sich um ihren Arm und ihren Hals schlängeln, die ihre Funken dem Feuer ihrer Blicke hinzufügen, oder die sachte an ihren Ohren plappern. Welcher Dichter wagte es, im Gemälde des durch die Erscheinung einer Schönheit verursachten Vergnügens die Frau von ihrem Kostüm zu trennen? Welcher Mann hat sich nicht, auf der Straße, im Theater, im Wald, auf die unbefangenste Weise einer kunstvoll zusammengestellten Kleidung erfreut und hat nicht ein Bild davongetragen, das von der Schönheit, der sie angehörte, untrennbar gewesen wäre und dadurch aus den beiden, aus der Frau und dem Kleid, eine untrennbare Gesamtheit gemacht? Es ist hier der Ort, scheint mir, auf gewisse Fragen die Mode und den Schmuck betreffend zurückzukommen, die ich am Anfang dieser Studie nur gestreift habe, und die Kunst der Kleidung an den albernen Verleumdungen zu rächen, mit denen gewisse zweideutige Liebhaber der Natur sie überhäufen.


Zu Teil 11: Lob der Schminke »

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