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Cees Nooteboom: Reisen zu Hieronymus Bosch

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Elke Engelhardt

Cees Nooteboom – „Reisen zu Hieronymus Bosch. Eine düstere Vorahnung



Zum 500. Todestag von Hieronymus Bosch, dem aktenkundlich rätselhaftesten Künstler¹, fand von Februar bis Mai eine Ausstellung in s´Hertogenbosch statt, im Anschluss gibt es von Ende Mai bis zum 11. September eine große Werkschau im Prado in Madrid. Von eben dem Museum erhielt Cees Nooteboom den Auftrag, einen Essay über Hieronymus Bosch zu schreiben. So viel zur Entstehungsgeschichte des schmalen, reich bebilderten Buches.

Fast überflüssig, die wenigen Fakten, die über Bosch bekannt sind, hier zu wiederholen. Dass er aus einer Familie von Malern kam, sowohl der Großvater, als auch der Vater, sowie einige seiner Brüder, waren Maler. Bosch war mit einer wohlhabenden Frau verheiratet und finanziell unabhängig. Er war Mitglied einer angesehenen Bruderschaft, die noch heute besteht, seine Bilder wurden an Königshöfe verkauft. Wie viel davon muss man wissen, um seine Bilder zu verstehen? Oder ist die Frage grundverkehrt?
Cees Nooteboom bemerkt jedenfalls in seinem Essay, wie sehr sich Bosch Gemälde, seine Kunst, von ihm selbst als Person gelöst haben. Weil Phänomene wie der Surrealismus und die Psychoanalyse hineininterpretiert werden, Dinge, die es zu Bosch Lebzeiten nicht gab. Was aber u.U. eher ein Hinweis darauf ist, wie allgemein menschlich seine Gemälde sind, wie zeitübergreifend hier das Unbewusste abgebildet wird.

Anders als in herkömmlichen Kunstbüchern findet in „Reisen zu Hieronymus Bosch“ keine Einordnung von Bosch Werken statt, es handelt sich vielmehr um so etwas wie einen Reisebericht. Durch die Zeit, die Orte, an denen Bosch Bilder zu sehen sind und durch die Bilder selbst. Dabei zielt Nooteboom auf eigene unabhängige Erfahrungen des individuellen Betrachters ab.

Es sind Werke, wie die von Bosch, die uns (in einer Welt, in der verlangt wird, dass alles machbar und erklärbar ist), daran erinnern, dass es Geheimnisse gibt, an denen uns Künstler wie Bosch teilhaben lassen, ohne dass sie jemals restlos erklärbar werden.  
In "Reisen zu Hieronymus Bosch" geht es in erster Linie um dieses Geheimnis, darum wie viel und vor allem was man davon sehen kann, und wovon es abhängt, was man sieht.
Nooteboom beginnt mit seiner ersten Begegnung mit Bosch Gemälden, namentlich mit dem „Heuwagen“ im Prado, dem Triptychon, das er als 21jähriger zum ersten Mal sah und nun 61 Jahre später wieder sieht, um sich zu fragen, was er damals gesehen hat, und was er heute wahrnimmt. Ob es ein Wiedersehen überhaupt geben kann, ob nicht jedes Sehen durch die Veränderung des betrachtenden Individuums ein neues, verändertes ist.

„Derjenige, der 2015 den Heuwagen betrachtet, hat noch immer denselben Namen und im normalen Sprachgebrauch auch noch denselben Körper, zumindest bezeichnet er ihn nach wie vor als seinen Körper. Auch das Gemälde trägt noch denselben Namen, er blickt also nach 61 Jahren erneut auf dasselbe materielle Objekt, Holz und Farbe, auf Vorder- wie Rückseite bemalt. Was hat sich dann geändert? Kann ich, ein reichliches halbes Jahrhundert später, noch mit denselben Augen schauen, die in der Zwischenzeit so viele andere Dinge gesehen haben?“


Vor diesen Ausgangspunkt stellt Nooteboom die Frage, was die Zeitgenossen Boschs und was wir heute in Bosch Bildern sehen.

„Wie liest man ein Gemälde? Oder besser gesagt, wie lesen andere ein Gemälde?“


Beim Wiedersehen mit dem „Heuwagen“ kam Nooteboom der Leitgedanke für dieses Buch: Was sehen wir? Wovon hängt es ab, was wir wahrnehmen, und was nicht? Wie und wodurch wird unsere Wahrnehmung beeinflusst?
Es sind diese Fragen, die den Kern des Buches ausmachen. Nooteboom möchte wirklich herausfinden, „wie sich ein und dasselbe materielle Objekt im Laufe der Zeit unter stets anderen Blicken verändert [hat]...“
Und natürlich spielen auch die Umstände, unter denen wir ein Bild sehen, eine Rolle. Nooteboom erzählt von Menschen in einem ohnehin sehr vollen Museum, die beharrlich den Blick auf ein Bild verhindern, und von der entgegen gesetzten Situation, nachts im Museum ganz allein zu sein mit den Gemälden.

Das Buch ist voller Bildbeschreibungen, also Beschreibungen dessen, was Nooteboom sieht, dazu ist das Buch reichhaltig illustriert, weniger mit Gemälden Boschs, als vielmehr mit Detailansichten aus Bosch Werken.
In einer der Beschreibungen behauptet Nooteboom: „Alles hat hier die Farbe von Angst und Gewalt, jede Deutung, die je dazu gegeben wurde, scheint mir gültig, solange sie mit Unheil assoziiert ist, dem Unheil, das vom göttlichen Schöpfungsmoment an durch das Chaos der Welt als Warnung heraufzieht.“
Während Nooteboom Details aus dem „Garten der Lüste“ beschreibt und dabei fortwährend Fragen aufwirft, formuliert er auch folgende Frage: „Hatte Hieronymus Bosch eine düstere Vorahnung in Bezug auf diese Schöpfung? [...] Ist nicht gerade die Gleichzeitigkeit von Gut und Böse das allesbeherrschende Thema [...]?“

Ein Thema, das stets mit einem Detailreichtum einhergeht, der von einer überschwänglichen Phantasie zeugt.
Was so zeitlos faszinierend an Bosch Bildern ist, ist nicht zuletzt ihre Unberechenbarkeit. Die Details sind unausschöpfbar, aber niemals beliebig.
Und sie kehren den Alltag um. Das Große wird klein, die Traumgestalten und die nächtlichen Gespenster treten ans Tageslicht.

Aber auch das ist nur Symptom für die Jahrhunderte überdauernde Anziehungskraft, die von Bosch Werken ausgeht, nicht die Ursache. „Schau nur, du siehst nicht, was du siehst“, zitiert Nooteboom einen berühmten niederländischen Vers, und fährt fort:

„Und genau das habe ich in Lissabon, Madrid, Gent und jetzt hier in Rotterdam gesehen: alles, was ich sah, und vielleicht doch nicht. Am besten würde man sich in einem der Gemälde einnisten und den Rest seines Lebens mit den Rätseln verbringen. Schau nur, da ist nicht abgebildet, was da abgebildet ist.“


Das scheint mir der Schlüssel zu Bosch Bildern zu sein, die Verunsicherung, die zuverlässig einsetzt, sobald der Betrachter das Gefühl hat, er habe etwas verstanden, erfasst.
Die Gemälde sind ein Ausdruck der Kunst, sich zu entziehen. Und geben auf diese Weise dem Betrachter die Möglichkeit oder konfrontieren ihn vielmehr mit der Notwendigkeit, in den Zustand des „Ich weiß nicht“ zurück zu finden. Etwas, das Bosch-Bilder zwangsläufig auslösen.
„Reisen zu Hieronymus Bosch“ ist ebenso ein Buch über das Wesen und Wunder des Sehens und Begreifens, wie es ein Essay über Hieronymus Bosch und seine Gemälde ist.


Bewegend und beeindruckend ist, wie Nooteboom im letzten Postskriptum des Buches eine Analogie zwischen einem Zeitungsfoto vom 2. September 2015 und Hieronymus Bosch Gemälde „Der Heilige Christopherus“ an der identischen Körperhaltung des türkischen Polizisten, der ein totes syrisches Kind in den Armen hält und dem Heiligen Christopherus, der das Jesuskind über das Wasser trägt, festmacht. Eine Analogie, die schließlich in dem Fazit mündet: „Er² geht, als sei auch dieses Kind zu schwer; und das ist es auch, wegen des Gewicht des Todes. Das Kind war zu schwer für Europa, weil Europa nicht existiert. Es konnte dieses Kind nicht tragen.“


¹ Bosch hat keinerlei schriftliche Notizen hinterlassen, weder Briefe noch Tagebücher sind erhalten, so dass kein einziges Wort von ihm selbst über seine Bilder überliefert ist.

² Mit „Er“ ist der türkische Soldat gemeint.


Cees Nooteboom: Reisen zu Hieronymus Bosch. Eine düstere Vorahnung. München (Schirmer Mosel) 2016. 80 Seiten. 29,80 Euro.

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