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Carl-Christian Elze

Portraits


Der Rhythmus des Traums

die Welt des Carl-Christian Elze


Ich traf auf Carl-Christian Elze bei der zweiten Lesung des Lyrikpreises München am 25. Juni 2010. Er war als letzter von sieben Nominierten an der Reihe und saß die ganze Zeit fast regungslos auf seinem Platz, in sich versunken, dann begann er seinen Vortrag mit dem Gedicht:
„ich habe eine kraft, die nach zwei seiten ausschlägt. / ich habe die kraft, still zu halten & mir den kopf abzudrehn / ihn zu verlieren wie ein taschentuch, das nur knittert.“ Später sprang er dann drahtig, fast federnd ins Taxi.

Seit Februar befindet sich dieser Text, mit dem er in München seine Lesung eröffnete, die schließlich zum Ersten Preis führte, in seinem neuen Gedichtband: „ich lebe in einem wasserturm am meer, was albern ist“ in Caput II, S. 23., ediert von luxbooks mit 77 Zehnzeilern, was wir zum Anlass nehmen, mit ihm unsere Portraitreihe einzuleiten.

Das Interview wurde im Pingpong-Verfahren, wie er es nannte, im Juni/Juli 2013 geführt.


Der Rezensent Mario Osterland schreibt auf fixpoetry: „Und immer wieder glaubt
man auch, den einen oder anderen Seitenhieb auf so manche Kollegen zu finden.“
Er bezieht sich dabei auf das Gedicht „dass wir alle zusammen knüpfen“ (einen Teppich aus Licht?) - inwieweit hat Osterland Recht mit den sog. Seitenhieben? Verdächtig kommt mir - im Sinne des Laufs derWelt - dabei die Wortwahl „ewiger Kreis“ vor.

Eigentlich möchte ich unser Gespräch am Anfang gar nicht gleich auf ein einzelnes Gedicht einengen, auch wenn es vielleicht mehr Zündstoff enthält als andere. Meinem neuen Gedichtband ist ein Zitat von Robert Walser aus dem Jahre 1945 vorangestellt, wo sich Walser beklagt, dass „die jetzigen Lyriker“ „geradezu Angst“ hätten, „ihre Gefühle zu zeigen“. Und weiter: „Da suchen sie denn als Ersatz nach originellen Bildern. Aber machen Bilder das Wesen eines guten Gedichtes aus? Gibt nicht erst die Empfindung jedem Gedicht seinen Herzschlag?“
Das ist ein Zitat, das im Grunde auf alle Gedichte dieses Bandes abstrahlt. Man kann auch sagen, alle Gedichte dieses Bandes wollen Walsers Behauptung vom gefühlsängstlichen Dichter möglichst widerlegen. Auch der Begriff „Herzschlag“ eines Gedichtes gefällt mir, drückt er doch aus, dass Gedichte, die so einen Herzschlag haben, lebendig sind, das heißt wirken können, berühren können. Für mich ist der Herzschlag eines Gedichtkörpers zunächst das Wichtigste, eine Art Schlüssel. Ohne diesen emotionalen Schlüssel kann ich einen Gedichtraum nicht wirklich betreten, kann nur unberührt durchs Fenster gucken. Und trotzdem kommt dieser Herzschlag, wie auch Walser schon 1945 feststellte, in Gedichten immer wieder zu kurz, oder bleibt verschüttet. Umso bitterer, wo doch gerade Gedichte, die wahrhaftige, klare Empfindungen in sich tragen, die stabilsten Raumgleiter sind und noch locker tausend Jahre später in anderen Herzen landen können. Aber woran liegt es nun genau, dass ausgerechnet Dichter Angst vor Gefühlen haben sollen, wie Walser behauptet. Indem ich dieser für mich drängenden Frage nachgehe, bin ich eigentlich gar nicht an Seitenhieben interessiert, sondern nur an der Wahrheit und an mehr Gedichten, die Menschen berühren können. Zum einen glaube ich, dass alle Dichter im Grunde Gefühle zeigen wollen, vor allem aber Gefühle erzeugen wollen, zum anderen weiß ich, dass es oft missglückt. Aber wodurch und wie genau kommt es eigentlich zum Missglücken, oder gnädiger ausgedrückt: zur Abschwächung? Ich kann nur Vermutungen anstellen.
Da entstehen mitten im schönsten Spiel, im Schreiben, plötzlich Vermeidungsstrategien,
wie mir scheint, vielleicht nur für Sekunden, zu große Bewusstheiten, Reflektionen, und schlimmstenfalls entsteht Angst – Angst vor Pathos, Angst vor Kitsch, Angst, zu privat zu werden, Angst vorm „Ich-sagen“, Angst vor Bekenntnissen, Angst vor Irrtümern, Angst vor zu wenig Intellektualität, Angst vor... was weiß ich noch alles. Und anstatt, dass Gedichte nun durch diese „Überwachungsgremien“ besser werden, werden sie aber eher krumm oder lau oder viel zu gelehrt. Das ist dann so, als ob man sich beim Schreiben selbst das Bein gestellt hätte, nur um zu verhindern, dass man stolpert und das Gedicht missglückt. Indem man sich nach allen Seiten hin absichern wollte und mit seinen Gefühlen nicht über die Strenge schlagen wollte, hat man das Gedicht eigentlich um seine größere Wirkung gebracht.
Einem Gedicht einen Herzschlag zu verpassen, hat somit auch viel damit zu tun, überhaupt keine Angst zu haben, sich angreifbar zu machen.



dass wir alle zusammen knüpfen
an einem   g r o ß e n   l e u c h t e n d e n   teppich –
wie soll ich das glauben! ihr habt herzen in der brust
doch bitte wo sind die muster eurer herzen im stoff?
wo ist eure anbetung, eure kindliche lust? & wo euer mitleid
mit allem, was stirbt? & wo eure unzerstörbare freundschaft
mit bäumen & hunden & wiesen? & wo eure unüberbietbare angst
alles zu verlieren, was ihr seht & hört & schmeckt & riecht
& was ihr selbst glaubt zu sein? obwohl ihr nichts seid im
                                                                          ewigen kreis
ich habe solche angst, obwohl ich nichts bin im ewigen kreis –

(Caput II, S. 39)



Robert Walser, kurz vor 1900





Die Romantische: Ich war einst ungekämmter
und unmittelbarer. Ich büßte zugunsten einer
Ordnung einen Klang ein. Eine Größe, eine
Freiheit, eine Ungezwungenheit, die sich
doch auch von sich aus genügend bezwang,
wichen von mir. Indem ich mich polierte, verdrängte
ich eine Wesenheit aus mir, aber mit
dem Rest meines Ichs fange ich immer noch
allerlei an.

(Robert Walser: Kleines Theater des Lebens)

Immer wieder entdecke ich Bezüge zur vormodernen Tradition. Diese sind meiner Meinung nach kein Schulwissen, sondern hermetischer Natur. Es beginnt ganz
harmlos mit den Gedichteinteilungen in „capita“ und nicht in Kapitel, was ja verständlicher wäre – aber im Caput steckt eine klangliche Assoziation zu „kaputt“, und vor allem bedeutet es ja auch Kopf, Haupt. Kaputt ist ein Lebewesen, wenn ihm
der Kopf abgetrennt ist, auch einem Tier. Nicht jedoch unbedingt Insekten, die bei Ihnen gern als amorphe Masse erscheinen, eine Art lebende Biomasse, die dem Willen des Poeten nicht folgt, sondern eigenen rhythmischen Strukturen und Melodien.
Sie haben Biologie studiert und arbeiten gelegentlich aushilfsweise im Zoo?


Sie haben Recht, das Wort Caput weckte auch in mir mehr Assoziationen als der Begriff Kapitel, was mir für den Wasserturm-Band sehr brauchbar schien. Der Band wimmelt schließlich von lyrischen Ichs und damit von sprechenden Köpfen, und es sind nicht wenige dabei, die den Anschein erwecken, ein bisschen kaputt zu sein.
Was den Zoo betrifft, so muss ich leider verneinen, ich arbeite nicht mehr im Zoo, auch nicht aushilfsweise. Meine Zoopraktika liegen schon ein paar Jährchen zurück. Am eindrücklichsten war sicher mein Praktikum im Zoo Berlin im Frühjahr 2001, wo ich eine umfangreiche Schädelsammlung für die Zooschule zu archivieren hatte. Was der Sache einen besonderen Reiz gab, war auch der Umstand, dass viele Schädel noch gar nicht bestimmt waren. Ich habe mich also damals exzessiv mit klassischer Systematik beschäftigen dürfen. Und wenn ich von Zeit zu Zeit mit meinen Bestimmungsbüchern nicht bis zum Artnamen vordringen konnte, packte ich einfach ein Köfferchen mit meinen „Problemknochen“ zusammen und fuhr zum Naturkundemuseum in die Invalidenstraße. Dort gibt es abseits des Museumsbetriebs riesige Sammlungen von Knochen, Schädeln, Federn, Fellen und Stopfpräparaten. Ich erinnere mich an Säle voller riesiger Schränke, die bis zur Decke hochreichten, vielleicht 10 m hoch. Man stieg also mit seinem „unbestimmbaren Schädel“
die Leiter hinauf, zog da und dort Schubladen auf, nahm bereits bestimmte Schädel heraus und verglich sie bis ins kleinste Detail mit dem Schädel, den man mitgebracht hatte. Alles lief also darauf hinaus, endlich den vollständigen Namen zu erfahren, das Ding endlich bei seinem ganzen Namen nennen zu können. Also, Sie merken schon, ich erinnere mich an das Ganze auch wie an eine Detektivgeschichte.

Foto: Beowulf Sheehan

Sie haben mir mal gesagt, Sie wären gern Zoodirektor wie Ihr Vater geworden?

Mein Vater war über 20 Jahre Zootierarzt im Leipziger Zoo. Zu DDR-Zeiten war das im Grunde eine ehrenamtliche Tätigkeit, die an die Veterinärmedizinische Fakultät gekoppelt war, nicht wie heute, wo Zoos als Unternehmen ihre Tierärzte selbst einstellen und bezahlen. Für meinen Vater war es, glaube ich, ein Kindheitstraum, der sich da erfüllte, neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Leipzig. Außerdem steckte die Zootiermedizin in den 60er und 70er Jahren noch in den Kinderschuhen, man absolvierte also „Pionierarbeit“ auf diesem Gebiet, arbeitete eng mit Humanmedizinern zusammen, traf sich als „Zootierärzte-Familie“ jedes Jahr einmal bei einem Zootierärztesymposium, das immer abwechselnd in einem sozialistischen und einem kapitalistischen Land stattfand. Dort tauschte man sich dann über die neuesten Forschungsergebnisse aus und feierte bestimmt auch ganz ordentlich. DDR-Zootierärzte wurden übrigens immer wie die Bettler auf Reisen ins kapitalistische Ausland geschickt. Wenn da nicht die westliche Zoofamilie ausgeholfen hätte, wäre mein Vater wahrscheinlich schon kurz hinter der Grenze verhungert, geschweige denn, dass ich auch nur ein einziges kleines Mitbringsel bekommen hätte, was mir natürlich wichtig war.
Nun zu ihrer Frage, ob ich gerne Zoodirektor werden wollte. Es stimmt, ich habe noch bis Ende 20 oft davon geträumt, Zoodirektor zu werden, habe mir meinen eigenen Zoo in den schillerndsten Farben ausgemalt, sowohl den Tierbestand als auch die Tierhäuser, aber am Ende habe ich doch bei weitem nicht genug dafür getan, dass es vielleicht hätte wahr werden können. Auch Gedichte kamen dazwischen.

Manche der Spannungen, die in Ihren Gedichten durch scheinbare Widersprüche aufgebaut werden, sind hermetische Polaritäten, die unlösbar sind, solange die Welt besteht. Lyrik wäre dann bei Ihnen so eine Art Schreibzwang, um aufgestaute Spannungen (z.B. Moral und Animalität) aufzuarbeiten?

Ja, das kann man so sehen. Ich trage wie jeder Mensch Spannungen mit mir herum und der Zufall wollte es, dass ich als 17-Jähriger herausgefunden habe, dass das Schreiben für mich Spannungen besser und wirkungsvoller „aufarbeitet“, wie Sie sagen, als andere Betätigungen wie zum Beispiel Tischtennis, Einkaufen oder Bratwurstessen. Diese Spannungen werden nicht wirklich gelöst, da haben Sie Recht, aber dieses Aufarbeiten fühlt sich doch eine gewisse Zeit wie eine Lösung an, zumindest wie eine Stabilisierung von Körper und Geist, wofür man im Grunde dankbar sein muss. Wahrscheinlich sind da keine wesentlich anderen biochemischen Abläufe an den Synapsen am Werk als bei Drogenkonsum. Damit erklärt sich dann auch der sogenannte Schreibzwang bei nachlassender Wirkung im synaptischen Spalt. Wenn Schriftsteller aus welchen Gründen auch immer eine ganze Weile nicht zum Schreiben gekommen sind und die inneren Spannungen bzw. Entzugserscheinungen zunehmen, dann gibt es wohl kaum ein unausglicheneres und traurigeres Völkchen als diese Wortsüchtigen.

Keine Angst vor Gefühlen. Sie verwenden Begriffe, die in der klassischen Moderne
tabu sind, mal von den Expressionisten abgesehen: Mein Herz! O Gott! Ich liebe!
(Yvan Goll), gebrauchen sie aber immer in einer traumatischen Gedankenszenerie, „weil es ein idiot ist, mein herz“ – „die idiotie meines herzens ist ein osterwunder“. Würden Sie sich („obwohl ich dich liebe“ – „kohlenwind“ – „jesus stirbt“) in der spirituellen Tradition eher beim Christentum angesiedelt fühlen, oder im Hinduismus/Buddhismus oder in der platonischen Hermetik, die ja viele Dichter – jeweils auf ihre Zeit bezogen – anwandten.


Ja, auch „Herz“ sollte man wieder sagen können im Gedicht. Überhaupt sollte es keine tabuisierten Wörter in der Dichtung geben. Die Frage ist ja immer nur, wie man es anstellt, dass Wörter, die von Menschen gefühlt zum zweihundertmillionsten Mal gehört werden, nicht stumpf schablonenhaft, sondern plötzlich wieder aufregend und lebendig klingen.
Und das geht bei solchen extrem „erfolgreichen“, aber auch „abgegriffenen“ Worten wie „Herz“ eben nur, wenn sie in einen wirklich neu anmutenden Zusammenhang bzw. in eine neue „Gedankenszenerie“ gebracht werden, wie Sie sagen. Das Ganze hat Robert Gernhardt schon einmal sehr klug und amüsant in einem kurzen Aufsatz thematisiert, der heißt:
„Herr Gernhardt, warum schreiben Sie Gedichte? Das ist eine lange Geschichte“.
Robert Gernhardt ist niemand, dessen Schreiben mein eigenes Schreiben wesentlich beeinflusst hat, aber ich schätze sehr Gernhardts Kopf, wenn er über Gedichte nachdenkt.

Die Angst vor Kitsch oder Pathos oder „Tabus“ existiert in meinen Augen nur dann bei einem Dichter, wenn er nicht genau weiß, wie er das Ganze neu durchspielen kann, sodass es auch wirklich neuartig klingt und eben überhaupt nicht mehr peinlich.

Was Ihre Frage nach meinen spirituellen Traditionen angeht, so bin ich auf jeden Fall christlich geprägt, von Kindheit an. Ich bin getauft worden und bin zur Christenlehre gegangen (allerdings war das anschließende Fußballspiel mit Rauferei auf der Gemeindewiese jedes Mal der gefühlte Höhepunkt der ganzen Veranstaltung). Nun bin ich schon eine ganze Weile ausgewachsen, prügle mich kaum noch, glaube nicht an die leibliche Auferstehung von den Toten und die jungfäuliche Empfängnis, aber liebe noch immer, vielleicht immer mehr, die Erscheinung (den Mensch) Jesus Christus und seine überlieferten Worte. Im Grunde aber, denke ich, fehlt mir die entscheidende gedankliche Stärkung durch das Christentum, wenn ich nicht an die leibliche Auferstehung glaube. Wenn ich das könnte, wäre das ein Sechser im christlichen Kopf-Lotto, um mit dem Tod klarzukommen. Aber die Hoffnung bleibt, genau wie beim Lottospieler, in mir erstaunlich stabil. Ich schleiche noch immer um den göttlichen Braten herum und bewundere Kirchen und lese im Neuen Testament und bin der ungläubige Thomas, der nur darauf wartet, seine Finger endlich in die Wunden stecken zu können, damit ihm alles aufgeht. Und wenn in meine Gedichte christliche Bilder und Figuren einfließen, dann zeugt das wahrscheinlich vor allem von meinem Wunsch, mir in der Tätigkeit, die mir eigentlich die größte Klarheit im Denken und Fühlen ermöglicht, im Schreiben also, auch Klarheit über meinen Glauben zu verschaffen. Eine einfache Stärkung im Glauben würde ich allerdings jeder Klarheit vorziehen, denn wenn mir diese Klarheit sagt: Nichts ist klar, dann nützt sie mir auch nichts.

„Mit Kafka betritt ein Phänomen die Bühne: die Vermischung. Kein schmutziger Winkel, der sich nicht als Metaphysik behandeln ließe. Und keine Metaphysik, die sich nicht als ein schmutziger Winkel behandeln ließe. Dahinter steht nicht eine persönliche Neigung des Schriftstellers. Es handelt sich um eine Tatsache. Schon Swidrigailow hatte in Schuld und Sühne bemerkt, die Ewigkeit erscheine ihm wie ein Badezimmer voller Spinnweben. Das ist eine Eigenart der Zeiten, eines ihrer Erkennungszeichen.
(...)
Die Vermischung zeigt sich vor allem darin, dass die gesellschaftliche Ordnung die kosmische Ordnung überlagert, ja, sie zudeckt und verschlingt. Sie bewahrt jedoch von ihr die Majestät und den Aufbau, auch wenn sie die Erinnerung daran auslöscht.

(Roberto Calasso: K. München 2006. S. 28)


Anselm Kiefer: „Sternenfall“, 1995. Foto: Louisiana


El Greco: Die Öffnung des fünften Siegels (1608 - 1616),  Öl auf Leinwand, 224,8 x 199,4 cm. Metropolitan Museum of Art


„ich bin fast schön hier, weil ich abgeschnitten bin von den städten“ – Ihre Stellung
zur Natur, zu den Tieren: Trotz der physischen Sehnsucht, ist da auch immer die Abneigung zu allem, was kriecht und fleucht, zu spüren, eine Angst infiziert zu werden (hatte auch Baudelaire – ja selbst George noch verlangte, die Natur müsse veredelt werden. Sie bringt ja den Tod (s. bei Ihnen kleine Eier, die Fliegen in den Kopf gelegt haben, Würmer, die Halt und Sicherungen fressen).


Ja, dieser scheinbare Widerspruch bzw. diese Spannung existiert tatsächlich in einigen Gedichten aus dem Wasserturm-Band. Zum einen, wie Sie sagen, die Sehnsüchte der lyrischen Ichs, die Städte zu verlassen, die Menschen, um in der Natur bei den Tieren Ruhe zu finden, zum anderen die Unsicherheit und die Gefahr, die von der Natur und den Tieren ausgeht. Man könnte natürlich auch einen alten Grzimek-Film aus der Serengeti anschauen, um zu begreifen bzw. immer wieder darüber zu erschrecken wie Schönheit und Mord Hand in Hand gehen, gehen müssen, in dieser Welt, wo jedes Individuum dazu verdammt ist, andere Individuen zu töten und zu fressen, um selber ein bisschen länger am Leben zu bleiben, nur um später trotzdem zu sterben. Ein Gedicht ist kürzer und bestenfalls genauso wirkungsvoll und kann dann manchmal einen Grzimek-Film ersetzen oder die Lektüre von Schopenhauer. Aber ich will natürlich auf keinen Fall von Grzimek und Schopenhauer abraten.

Vielleicht noch ein paar Worte zum Tierensemble im Band: Katzen kommen meist nicht gut weg, Hunde allerdings immer, man kann sagen, sie sind die Vertrauenstiere schlechthin in meinen Gedichten.
Was die fickenden Fliegen im Kopf betrifft (im gleichnamigen Gedicht), die ständig Eier legen, sich vermehren und in immer größerer Anzahl immer weiter Vermehrung betreiben, so ist das oberflächlich betrachtet natürlich eine eklige Angelegenheit. Im Gedicht aber sind diese eierablegenden, fickenden Fliegen zu Glückstieren umgedeutet, vielleicht ja sogar zu glücklichen Gedanken, die man am liebsten im Kopf mit dem kleinen Finger berühren und streicheln möchte, um endlich selber glücklich zu sein. Aber wie kommt man mit dem kleinen Finger in seinen Kopf hinein, wie kommt man an seine glücklichen Gedanken heran, das ist hier die Frage...

Haben Sie Roberto Calassos „K.“ gelesen, über Kafka? Da sagt er, Kafkas Szenerien seien immer im Bardo, halb real, halb Traum, der Kopf fast ausgeschaltet: „ich habe karl roßmann gesehen, halb zwei in der frühe/ im hotel occidental“ – „ich steh ja selbst hier in amerika“. Also was ist mit dem Verwobensein in Traumwelten, wenn nicht in der virulenten Gefahr, längst tot zu sein, und es nicht zu wissen; aber die Würmer nagen und nagen. („ich bin in einer schattenwelt“)

Ja, es sind oft traumhafte Szenerien, die in den Gedichten aufgemacht werden, wie kleine surreale Filme, die nur für ein paar Sekunden (vielleicht 30 Sekunden) aufleuchten und dann wieder erlöschen, sobald die zehn Verszeilen abgespult sind. Dann sollte man natürlich bestenfalls sofort zum nächsten 10-Zeiler springen (alle Gedichte des Bandes sind ja
10-Zeiler), um wieder den nächsten Film zu sehen usw. Am besten, man sieht sich alle 77 „Kurzfilme“ des Bandes hintereinander an, das wäre dann gefühlte Spielfilmlänge. Aber noch ein paar Gedanken zum Entstehen von Bardo, wie Sie sagen, als einem Zustand, der halb real halb Traum ist. Um das zu erreichen, und es gibt keinen größeren Meister darin als Kafka, muss man, denke ich, mit großer Lust und großem Vertrauen beim Schreiben träumen. Die Schwierigkeit ist, denke ich, die richtige Balance zu finden, denn anders als beim Träumen im Bett, soll man ja jetzt träumen und gleichzeitig schreiben. Man muss also einen Zustand von Halbschlaf finden, das heißt, zum einen müssen die wichtigsten Sprachregulations- und Kontrollzentren noch über genügend Bewusstheit verfügen, um zu verhindern, dass man völligen Blödsinn schreibt bzw. alle Bildfindungen unverbunden nebeneinander stehen bleiben, und zum anderen muss man sich für unkontrollierbare, rauschhafte, traumähnliche Momente während des Schreibens schlagartig öffnen, damit einem etwas Ungewöhnliches ins Netz geht. Gerade dieses Unkontrollierbare, Traumähnliche beim Schreiben ist etwas wirklich Beglückendes, wie ich finde, weil es uns zum Spielen anregt. Friedrich Schiller hat im 15. Brief seiner Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ wunderbar formuliert: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Und am Ende verhindert dieses Unkontrollierbare auch noch, dass wir mit irgendwelchen vorgefertigten „Schreibplänen“ einfach durchmarschieren, es verhilft uns zu spannenderen Texten. Im wortwörtlichen Sinne: zu Texten, die mehr Spannungen in sich tragen, also auch mehr Widersprüche.

„ - Baudelaire sagte in einer Bierstube: ‘Hier riecht es nach Zerstörung.’ - ‘Aber nein’, antwortete man ihm. ‘Es riecht nach Kohlsuppe, nach verschwitzten Frauen.’ Doch Baudelaire wiederholte heftig: ‘Ich sage euch, es riecht hier nach Zerstörung.’“ Was ‘die Zerstörung’ für Baudelaire war, hat er in dem Sonett erklärt, das diesen Titel trägt. Sie ist ein Dämon in der Luft, etwas, was man atmen kann. Gleich einem Virus „umschwebt er mich wie eine unfühlbare Luft; ich schlinge ihn hinab und merke, wie er in meiner Lunge brennt.“ Mit dem Tod hat es eine Bewandtnis - Baudelaire hatte es schon in den ersten Versen der Fleurs du mal angedeutet: „Und atmen wir, so dringt in unsre Lungen, in unsichtbarer Strom, der Tod herab, mit dumpfem Klageton.“
(Roberto Calasso: Der Traum Baudelaires. München 2012.
S. 40ƒ. Quelle des Bierstubenzitats: Renards Journal vom
12. Januar 1892.)

ich habe fickende fliegen im kopf. ich habe so viele
fickende fliegen im kopf, alles brummt & legt kleine eier.
ich habe dinge zu regeln, wenn ich wieder im haus bin.
wie kann es sein, dass fickende fliegen in mich geraten?
das system muss offen sein. wie liebestoll ist dieses system?
& wenn es offen ist, kann ich mit dem kleinen finger hinein?
& reicht es aus, wenn ich nur einer einzigen fickenden fliege,
während sie fickt, mit dem kleinen finger übers rückenfell fahre
dass es knistert, um selber glücklich zu sein?, weil fickende
                                                                                          fliegen
glücklich sind, so steht es geschrieben & alles glück abstrahlt -

(Caput II, S. 21)







„Wenn sich der Bewohner des Turmes auf dem Balkon oder am Fenster zeigen würde, wäre er nichts als ein Medium. Das Leben wäre ein Fließen von Kräften, die sich, aufeinanderstoßend, wie elektrische Spannungen entlüden. Aber es könnte nicht von von sich erzählen. Alles würde sich auf das Spiel der Kräfte reduzieren, die zusammen-prallen, im Sichtbaren und im Unsichtbaren. Alles ist aber viel undurchsichtiger, ungewisser, unberechenbarer. Die Kräfte können sich durchaus ignorieren. Jede baut sich ihre Bühne, die eines Tages von einer derjenigen Kräfte, die ignoriert wurden, zerstört wird. Die Fiktion kann aber auch lange aufrechterhalten werden, so lange, dass sie am Schluss als Natur betrachtet werden kann. Eingeschlossen in seinem kahlen Zimmer, die Ellenbogen auf dem Tisch, bürgt der unbekannte Bewohner des Turms für die Undurchsichtigkeit der Welt. Ihm verdanken wir, dass das Leben in seinen verborgensten Aspekten ein Abenteuer ist, von ihm erwarten wir in jedem Augenblick eine Antwort - und sind ihm dankbar, weil die Antwort stets ausbleibt.“

(Roberto Calasso: K. München 2006. S. 34 f.)


Zum Schluss zu Ihrer Prosa: Auffallend anders, auch traumatisch wirkt sie auf mich, aber nicht so fordernd und polar – immer sind Set und Setting konkret, mit Zeit- und Raumbezügen. Geht sie Richtung Film?

Mein Prosaband, der nächstes Jahr erscheinen soll, wird „Aufzeichnungen eines albernen Menschen“ heißen, ist also ein echtes Geschwisterkind für den Gedichtband „ich lebe in einem wasserturm am meer, was albern ist“. Der Begriff „Albernheit“ ist mir wirklich lieb geworden, vor allem, weil er meinem Verständnis nach wirklich spannend ist. Er steht zum einen natürlich für bewussten Klamauk, aber albern wird man eben auch, wenn man Dinge einfach zu ernst nimmt. Daraus entsteht übrigens eine Form von Komik, die ich viel wirkungsvoller finde als eine Komik, die sich selbst als komisch empfindet. Ob die im Band versammelten Geschichten und Erzählungen nun wirklich traumatische Inhalte haben, bezweifle ich, aber in vielen Texten werden sie von den Protagonisten genau so empfunden, als ob sie traumatisch wären, was, wie schon gesagt, bisweilen albern ist, und dann auch für Komik sorgt. Gleichzeitig kann es auch etwas Berührendes haben, finde ich, wenn Menschen sich und ihre Probleme zu ernst nehmen und irgendwann auch zu dieser Einsicht gelangen.
Sie fragten noch nach der Verbindung zum Film. Eigentlich empfinde ich hier eine große Unterschiedlichkeit in meinen Arbeitsweisen. Beim Drehbuchschreiben musste ich lernen, dass ich wirklich alles versuchen muss, um eine wirkungsvolle Visualisierung zu erreichen. Ich darf meine Figuren einfach nicht ständig denken lassen, ich muss ihre Gedanken in Handlungen überführen. Das klingt oft leichter, als es in der Umsetzung ist. Aber es macht ungeheure Freude, wenn man es einmal verinnerlicht hat, und dann beginnt, anders zu denken und auch Filme anders zu sehen. Bei meinen Erzählungen dagegen liebe ich es genauso wie beim Gedichteschreiben, dass ich meine lyrischen und „prosaischen“ Ichs immer wieder Kopfsprünge machen lassen kann, dass ich ihre Innenwelten gestalten und zeigen kann. Die Gestaltung von Innenwelten fällt mir im Grunde auch viel leichter als die Gestaltung von Außenwelt. Ich bin kein besonders guter Beschreiber von z.B. Landschaften oder dem äußeren Erscheinungsbild von Menschen. Aber ihre Gedanken fallen mir irgendwie zu...
fast wie ein Traum.

KK


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