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Birgit Kreipe: Soma

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Elke Engelhardt

Soma



Soma ist kein eindeutiger Begriff, so zweisilbig kurz wie er klingt so vieldeutig sind die Erklärungen, wenn man die Suchmaschine mit diesem Wort füttert. Wikipedia nennt das Album einer deutschen Rockband, ein Videospiel, erinnert daran, dass Aldous Huxley seine fiktive Droge in „Schöne neue Welt“ Soma genannt hat, und kommt erst nach Getränken, Schiffen, Flüssigkeitsmaßen und einigen anderen Dingen, die diesen Namen tragen, zu der Erklärung, dass Soma aus dem Griechischen kommt und den Körper* bezeichnet. In der Zellbiologie steht der Begriff für den Körper einer Zelle.
Allgemein ist damit Körper und Leib gemeint, im Gegensatz zu Geist, Gemüt und Seele. Man könnte Soma vielleicht übersetzen mit „Das Gedächtnis der Zellen“.
Und so geht es in Birgit Kreipes drittem Gedichtband eher um das, was wir spüren, als um das, was wir verstandesmäßig beweisen und erklären können.

Die Gedichte in „Soma“ sind Rätsel, die nicht gelöst werden wollen, sondern Gewissheiten in Frage stellen. Womöglich wäre es einfacher diesen Gedichtband zu illustrieren, also Bilder aus ihm zu machen, statt ihm mit (zumal erklärenden) Worten beizukommen. Die Bilder hätten Ähnlichkeit mit denen von Bosch.
So streife ich als Leserin durch diesen Gedichtband wie durch Hieronymus Boschs rätselhafte Bilder. Erkenne hier ein Detail und dort eine Einzelheit, ohne Zusammenhänge herstellen zu können, ohne dass es gelingt eine Geschichte, Botschaft, oder gar Lösung ausfindig zu machen.
Was hingegen mit dieser Rätselhaftigkeit, der somnambulen Stimmung der Gedichte einhergeht, ist eine Sensibilisierung für das Altbekannte, für das einzelne Wort, das so, ohne Kontext, der sich auf den ersten Blick und eindeutig offenbart, neue Bedeutungshöfe bekommt, fremd wird und geheimnisvoll.
Auf diese Weise geht das Sagen eigene (assoziative, nicht unbedingt mit dem Verstand nachvollziehbare) Wege, aber diese verzweigen sich, bilden Muster.

Ich habe mich entschieden, den Mustern folgend, diesen Gedichten wie ein reisender Forscher zu begegnen, in Anlehnung an das Zitat von Siegmund Freud, das Birgit Kreipe den Gedichten voranstellt, die sie unter der Überschrift „über die alpen“ versammelt hat.
Ein Reisender also, der sich entscheiden kann, ob er sich damit zufrieden gibt, zu bestaunen, was offen zutage liegt, das „Oberflächliche“ mit Hilfe von Theorien und Traditionen einordnen kann, oder sich entscheidet, tiefer zu graben, das Verborgene zu bergen und so vielleicht zu „ungeahnten Aufschlüsse[n]“ zu gelangen.
Damit ist es vielleicht wirklich so etwas wie eine Reisebeschreibung, die ich als Besprechung vorlege, der Versuch, meinen Weg des Lesens und Erlebens (weniger den des Verstehens) nach zu zeichnen, nachvollziehbar zu machen, oder auch einfach nur davon zu erzählen.

Da passt es, dass Birgit Kreipe mir gleich zu Anfang „blaue luftschiffe“ anbietet, die sie aufsteigen lässt, so dass ich „das feld, wo wir licht anbauten“ von oben betrachten kann.
So findet der erste Ausgrabungsversuch mit Hilfe von Licht, von Beleuchtung statt. Es leuchtet, Dinge werden doppelt gesehen (man befreit sich vielleicht ein wenig von den Konventionen des Sehens).
Es geht um Licht, und um das, was man sieht, aber ebenso um das andere, das man sehen könnte.
Da ist die Rede vom traurigen „[...] bleischwere[n] Kind“, das alles erleuchten will:

„die zukunft, die es nicht gab.
den witzigen zwilling der zeit, seine halb
ausgeführten gesten. mickey mouse, rostiges fahrrad


was keiner sieht.“


Birgit Kreipes Gedichte lassen nicht nur sehr schöne surreale Bilder im Bewusstsein entstehen, da ist auch eine Melodie, der Wohlklang und die Schönheit der Wörter, die etwas bewegen beim Lesen, weil sie etwas bedeuten, das außerhalb des Benennbaren liegt.
Als wären diese Gedichte die Belohnung für jemanden, der so ganz und gar auf die Sprache vertraut, dass er auf Bedeutungen verzichten kann. Weil etwas anderes zum Ausdruck kommt, als das, was der Verstand erfassen kann.

Es sind Traumfetzen, die Kreipe vor dem Leser ausbreitet, nicht fassbar, aber aussagereich. Die Einladung zu einer Wanderung durch die Erinnerung.
Nach Land und Wasser in denen sich die Erinnerung manifestiert, ist in „Kinderheim“ die Heimsuchung durch die Erinnerung das übergeordnete Thema.
„Kinderheim“ bezeichnet bei Birgit Kreipe weniger das Heim, als vielmehr die Heimsuchung durch die Kindheit, immer wieder holt die Erinnerung uns ein, und es hilft nicht zu rufen: „aber ich bin doch längst ausgewandert! und die kinder auch!“

So entstehen die „Löcher“ im Unbewussten, die wir mit inneren Filmen der Urverdrängung füllen. Unter der Überschrift „short cuts“ präsentiert Kreipe einen zuweilen bedrückenden Film. Aber das ist nur das Gefühl, das von einem vermeintlichen Inhalt hervorgerufen wird, die Form ist leicht wie Schnee, filigran, schön und unfassbar.
Ich streife bei den „short cuts“ Gedichten durch eine winterliche Landschaft. Beim Heranzoomen werden Einzelheiten sichtbar, an denen ich mich seitenlang aufhalten könnte. Das Licht, Ausgrabungsinstrument Nummer eins, trifft auf die Kälte, den Schnee.
„und ich oder ein rest davon...“
„schnee fiel, aus mir raus auch.“
Die Gedichte beschwören eine Art Lawinengefahr herauf, wenn die Erinnerungen den Einzelnen überrollen, er gewahr wird: „meine welt ist noch da drin!“

Es geht bei diesen Film-Gedichten und vielleicht sogar bei allen Gedichten in „Soma“ um das, was man wieder vergraben hat, weil es sicherer ist dort, aber das Vergrabene drängt von selbst an die Oberfläche, und plötzlich stehe ich da als Leser inmitten verstörend schöner Bilder und kann nicht mehr entscheiden, was Erinnerung ist, was Zukunft, was Gegenwart und was Traum.
Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, mich verirrt zu haben. Vielmehr erst jetzt wirklich auf dem Weg zu sein. Gerade weil es unmöglich ist, zu sagen, wohin.
Mittendrin in einem Lebensfilm, bei dem wir (scheinbar, wenigstens im Gedicht?) vorspulen können und heranzoomen, zurückspulen und stoppen, nur wirklich Regie führen können wir nicht.
Immer wieder beginnt Kreipe in ihren Gedichten das Spiel mit der Wahrnehmung. Was sehen wir, was ist Wirklichkeit? In welchem Zusammenhang steht das eine zu dem anderen? Somit öffnet sich das Bedeutungsfeld erneut für den Anfang. Die Scheunen. Angereichert mit einer Schindel von Sylvia Plath. Das ist der Ausgangspunkt um
„rückwärts [zu] wachsen“
und die Frage:
„kann man einen tempel zurückbauen
in bretter und licht?“

Während ich unter Kreipes Führung die Alpen überquere, scheint mir dieses imposante Gebirge ein im wahrsten Sinne des Wortes überwältigendes und beinahe unbezwingbares Bild für den Lebensweg zu sein, für getroffene Entscheidungen und einmal eingeschlagene Wege. Gleichzeitig spielt das Nicht Wahrhaben Wollen dieser Tatsache eine bedeutende Rolle. So heißt es immer wieder: „wären die alpen doch wolken geblieben!
Woraus ich den Wunsch ableite, dass die Zukunft besser hätte Zukunft bleiben sollen, statt so unumkehrbar nah zu kommen. So ist Erinnerung an Zukunft und die Vorstellung von bevorstehender Zukunft getrennt und nicht wieder zusammenführbar, außer im Konditional.
Der Motivstrang, der sich durch alle Gedichte zieht, der meinen Wegweiser darstellt auf dieser Reise durch die Gedichtlandschaft, die Birgit Kreipe in „Soma“ entfaltet, sind die Verben: verdrängen, vergraben, versinken.

Kreipe zitiert Freud über die Verdrängung: „Es gibt keine bessere Analogie für die Verdrängung, die etwas Seelisches zugleich unzugänglich macht und konserviert, als die Verschüttung, wie sie Pompeji zum Schicksal geworden ist und aus der die Stadt durch die Arbeit des Spatens wieder erstehen konnte.“
Was zutage tritt bei diesen Ausgrabungsversuchen (was anderes als dieser Versuch ist Dichtung?) ist keine einfach für alle gleich zu lesende Oberfläche, sondern ein Geheimnis, so wie Ulrike Draesner es definiert:

„Geheimnis bedeutet Verunsicherung, Nicht-Wissen und dass durch die Verdichtung von Sprache, Materie und Thema tatsächlich die Geheimnishaftigkeit unserer Welterklärungsversuche wieder fühlbar wird.“ (Ulrike Draesner im Gespräch mit Cornelius Hell in der Volltext 2/2016)


Birgit Kreipes Gedichte hinterlassen Eindruck, was voraussetzungsvoller zu beschreiben und zu erzählen ist, als die Gedichte zu analysieren und zu verstehen, diese Lesearten, die wir gewohnt sind, worauf wir lebenslang konditioniert worden sind.
Die wirklich großen Dichter setzten schon immer auf das Schweigen. Das Unsagbare möglichst eng umkreisen, und das mit Worten, die eher aus dem Traum oder der Intuition kommen als vom analytischen Verstand (weil der eher trennt, während das Unbewusste sehr wohl weiß, dass alles verbunden ist.)


*
Orphisches Mantra nach Platon: Gorgias 493 a: Soma – sema (Körper – Grab)


Birgit Kreipe: SOMA. Gedichte. Berlin (kookbooks) 2016. 80 Seiten. 19,90 Euro.

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