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Bertram Reinecke: Über Rollen und Rolle spielen

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Bertram Reinecke



Auch ich hatte dem Merkur einen Essay zur Frage des Sexismus eingesandt. Nachdem ich mit Lena Völcklinghaus die gewünschten Änderungen vorgenommen hatte¹, erreichte mich tags darauf eine mail des Chefredakteurs: „… als Merkur-Herausgeber  ... redaktionelle Verantwortung trage ... muss ich die Notbremse ziehen … droht dann doch die Marke Merkur zu beschädigen.“
„Ich kann Ihre ganze Konstruktion von ‚Sexismus‘ und ‚Sexisten‘ und ‚Antisexisten‘ so nicht nachvollziehen ...Mein Vorschlag: Ich redigiere, kommentiere und kürze
² ihn. Es würde sich allerdings, das sage ich gleich, um recht massive Eingriffe handeln. Anders kommen wir aber ganz sicher nicht zusammen.“ Mich erstaunt diese Ablehnung nicht³. Etwas ungewöhnlich scheint mir allerdings, wie sich hier, wie man so sagt, der Bock „Ich kann … nicht nachvollziehen“ zum Gärtner aufschwingt.


Über Rollen und Rolle spielen



Dies ist das Filet aus einem längeren Essay, von dem ich nicht weiß, wann oder ob er fertig wird. Hier sind von den bereits einigermaßen gerundeten Teilen solche dargeboten, die zu den Themen der Merkur-Debatte passen. (Es bleibt dadurch etwas sprunghaft.)
    Mein Sexismusradar ist offenbar mitunter weniger sensibel als das anderer Leute. Das ist vielleicht wichtig für einen antisexistisch orientierten Mann, um vor Artefakten der Messung verschont zu bleiben, etwa nicht einem gelinden Sexismus der Bevorzugung von Turnschuhträgerinnen anheimzufallen. Jedes Mal neu ergibt sich ja auch die Frage, wo hört Verständnis für die gründlich andere Situation des Anderen auf, wo beginnt Viktimisierung? Ob etwas sexistisch genannt werden muss, hängt mitunter an der Weite des in den Blick genommenen Rahmens der Situation. Was die richtige Rahmenweite ist, ist schon Teil des Problems.

Ich habe deshalb keinen besonderen Beitrag zu leisten, wenn es gilt, Fälle von Sexismus aufzufinden. Auch über Quoten etc. ist das Wesentliche gesagt, man kann sie noch so befürworten, an der Stelle kommt man nur weiter, wenn es Quoten gibt.
    Ich kann dafür strukturelle Beobachtungen beisteuern, wie sich das Sexismus-Problem in die Literatur einschreibt oder wie es sich mit dem Problem der Autorität an Schreibschulen verzahnen kann. Außerdem gehöre ich wie Martina oder Anke zu den eher älteren Beiträgern. Ich möchte nicht nur Zustände kenntlich machen, sondern auch Veränderungsrichtungen markieren. (Für das Gebiet der neuen Bundesländer beobachte ich seit den 90er Jahren Rückschritte in Bezug auf weibliches Selbstbewusstsein. Daran musste ich auch denken, als ich Martina Hefters Text las. Da sich hier und da aber auch einiges zum besseren wendet, gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass der Glaube an Veränderbarkeit Veränderungen befördern kann.) Dafür hilft es vielleicht, wenn potentielle antisexistische Bündnispartner sich gegenseitig etwas sichtbarer machen.


    Trotz meiner nun längerfristigen Beschäftigung mit Thema und Fachliteratur dazu verbleibt dieser Essay(ausschnitt) auf einem Niveau des situativen Pragmatismus. Auch sein Wert mag eher darin bestehen, zu zeigen, wie einem die komplexen Fragen dieses Feldes eben an den Hut stoßen und nicht bloß akademische sind, wie es derzeit ja gerade mancherorts ausgeschrien wird.


Intuitionen


Ein Sexist ist nicht Sexist aus Leidenschaft, sondern weil er meint, mit dem Spiel auf der sexistischen Klaviatur seine Ziele verwirklichen zu können. Es ist ihm selbst auch meist egal, ob sein Verhalten den Sexismus desavouieren könnte. Wenn ihm andere Strategien wirkungsvoller erscheinen, verzichtet er auch zwanglos auf sexistische Mittel. Sexisten sind seltener solidarisch. Nur selten und wenn es sonstigen Vorteilen nicht entgegensteht, bedient sich der Sexist ostentativ seiner Mittel in reininszenierender Absicht.
    AntisexistInnen glauben, dass Sexismus ihren langfristigen Interessen entgegenläuft. Männliche Antisexisten hätten eher die Chance, mit sexistischen Mitteln kurzfristig einen Vorteil zu erlangen. Sie müssen diese öfters (oder fast immer) ausschlagen, um begründet Antisexisten zu heißen. Antisexistinnen (w) haben seltener Gelegenheit, von kurzfristigen Vorteilen zu profitieren. Wenn vereinzelte Handlungen ihrerseits die sexistische Verfassung unserer Gesellschaft ausnutzen, legitimiert der Endzweck der Gleichberechtigung, dem sie sich auf diese Weise näher bringen, oftmals ihre Handlungsweise. Dennoch ist mir oft wohler, macht es mir oft Mut, wenn ich Antisexistinnen solche Mittel ausschlagen sehe.

Insgesamt wird es keine konsistenten AntisexistInnen geben können, schon allein, weil es keinen konsistenten Sexismus gibt, von dem sich ein solcher absetzen ließe. Sexismus bewegt sich immer auf dem ad hoc-Niveau bestenfalls literarischer Theoriebildung, es sind stets verschiedene Versionen in Umlauf und auch jede in sich selbst ist voller Brüche: Männer und Frauen unterscheiden sich eben nicht in dem Maße, wie der Sexist annimmt, und so kann das zurechtgelegte Weltbild nie ohne Sprünge und Brüche die anders geartete Wirklichkeit abbilden. AntisexistInnen haben oft keinen festen Gegner, sondern irgendetwas Schwammiges, was „Struktur“ aber deswegen nicht weniger mächtig macht. Antisexistische HeldenInnen stehen nicht AntiheldInnen gegenüber, so sehr das Wortschema einen solchen Gegensatzframe aufbaut, nicht nur weil es ersteren, die oft auch Opfer sind, mitunter an passender Statur fehlt. Deswegen ist Antisexismus so schwer zu erzählen oder verschiebt sich ungut, wo wir uns in solche packenden Plots verstricken lassen. Diese Scheu vor Kampfplätzen nötigt AntisexistInnen oft, positiv anzuknüpfen und Unterschiede untereinander nicht zu markieren. Auch das ist bei der Merkurdebatte deutlich zu sehen: Die Auffassungen von Antisexismus sind sehr verschieden, aber man will seinen Streit nicht vor die Leute tragen, gar das eigene Nest beschmutzen. So klingt mancher Satz (auch bei mir) nach plausibler Binsenweisheit, weil nicht klar wird, wovon er sich absetzt.

Mindestens weil Antisexismus als Gegenpol zum inkonsistenten Sexismus nie eindeutig ist, weiß ein antisexistisch orientierter Mann im Einzelfall nicht, ob er seinen gewohnheitsmäßigen Sexismus erst auf ein Niveau eines subtilen Alltagssexismus herabgestimmt hat, oder ob sich sein Verhalten schon als wirksam antisexistisches Verhalten ausweisen ließe, denn noch jeder Sexist weiß einen Spezi, der aber nun sicher (und im Gegensatz zu ihm) bestimmt sexistisch gehandelt habe.
    Schon gar nicht reicht es aus, die sexistische Verfassung unserer Gesellschaft bloß zu missbilligen. Denn selbst derjenige, der eine Frau besonders dreist anbaggert, weil Frauen ja sowieso immer so früh nach Hause gehen, kann meinen, ihm wäre es anders selbst ja lieber und schließlich habe er noch nie jemandem im Dunkeln angefallen usw.
    Es gibt keinen Rubikon zwischen Sexismus und Antisexismus, den man überschritten haben könnte – und dann ist man auf der richtigen Seite. Man muss stets neu reflektieren.
    Am greifbarsten wird das Thema Sexismus, wenn man sich Statistiken zu Stellenbesetzungen und Preisvergaben ansieht. Die harten Fakten sind letztlich das Entscheidende, aber auch dafür, diese Statistiken als die wichtigste Metapher des schwer greifbaren Phänomens einzusetzen, zahlen die Debatten drauf. Da eine Stelle oder einen Literaturpreis nur der Eine oder die Andere bekommen kann, „framt“ das Gedankenbild das Thema immer wieder neu zu einem Geschehen zwischen Helden und AntiheldInnen. Mindestens aber sieht es stets so aus, als wäre Antisexismus ein Nullsummenspiel, in dem die eine gewinnt, was der andere verliert. Das blockiert und ist aus gleich mehreren Gründen falsch: Erstens sind wohl viele überzeugt, dass alle gewinnen in einer weniger auf solche Unterschiede ausgerichteten Welt. Man übersieht leicht, dass Antisexismus wesentlich, und nicht etwa nur nebenbei, auch ein Plussummenspiel ist, während am Sexismus alle wesentlich verlieren. Der Gewinn den bessere Verhältnisse brächten, würde sich auch nicht säuberlich an der Geschlechtergrenze trennen. Wer bereits antisexistisch orientierte Gewohnheiten hat, würde eher profitieren, wer an seinen sexistischen Gewohnheiten hängt, würde eher weniger gewinnen, egal, welches Geschlecht jemand hat.
    Wenn Frauen sagen, dass sie am Sexismus leiden, ist das unmittelbar plausibel; wenn Männer dies tun, geht man weithin in Abwehrhaltung, unterstellt ihnen das Bedürfnis nach einer Retourkutsche, den Drang das Thema relativieren zu wollen, meint, jemand trüge Luxussorgen vor oder nähme sonst eine fragwürdige moralische Position ein.
Ich halte aber Sexismus nicht bloß, wie, sagen wir etwa, Katja Brunner, für eine ungerechte, eingeschliffene schlechte Gewohnheit, der man also mit exemplarisch deftigem inversen Sexismus irgendwie beikommen könnte, sondern, eher für eine ansteckende Krankheit, die unser Handeln verformt und die Seelen entzündet. Es ist wichtig, immer auf die ökonomischen Aspekte zurückzukommen. Aber eine Ebene höher und da wo das Ungemach auch für den antisexistischen Mann beginnt, entscheiden sich auch viele Dinge, die sich auf der Ebene des Ökonomischen am Ende auf alle wieder niederschlagen. Wenn er also eher dahin sieht, dann nicht, um von ökonomischen Benachteiligungen abzulenken, sondern weil seine Anteilnahme am Problem hier ein echtes Mit-Leiden wird. Warum wird das in Debatten um den Antisexismus so ungern zugestanden? Ja: Solches Misstrauen ist verletzend, denn mit diesem Misstrauen wird einem öffentlich abgesprochen, auch Interessen zu haben, die über den rein wirtschaftlichen Vorteil oder Distinktionsgewinn hinausreichen. Es spricht sich darin auch eine Nötigung aus, sein Geschlecht anzunehmen wie eine Erbsünde. Verschenkt man mit solchem Unsinn nicht viel Empathie und Freude am Anpacken einer antisexistischen Zukunft, bloß um das enge Bild unserer Feindschaften bestätigt zu sehen? Blockiert das nicht manchmal auch die Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen? (Das ist doch ohnehin schwierig genug, wo doch der Sexismus sich immer selbst unsichtbar zu machen sucht.)


Die (Anti)sexistischen Wunderreiche des Lesens in Kindheit und Jugend


Ich bin mit Mädchenprosa groß geworden: Meine Mutter hegte den Verdacht, dass DDR-Erzählungen versuchen könnten, die verhasste DDR-Ideologie in den Kindsköpfen festzusetzen. (Ostlyrik, als die unabhängigste Gattung, war aber im Kinderzimmer erlaubt, und so habe ich wichtige Leseerlebnisse mit Bert Brecht, Peter Hacks und Samuil Marschak) So waren die aktuellsten Kindererzählungen in vielfach geklebten, liebevoll gehegten Westkinderbüchern – meist der 60er Jahre aus der BRD – enthalten, mädchengerechte Importe für meine Tanten, die anschließend an meine Cousins und Cousinen weitergereicht wurden. Erst nach und nach sickerten dann aus Westpaketen und von einer vertrauenswerten Buchhändlerin auch andere Texte ins Kinderzimmer.
    Und so erinnere ich mich vor allem der Scham, dass ich in diesen Büchern, etwa in der rauf und runter gelesenen Bullerbü-Reihe, erfuhr, dass sich Jungens offenbar immer beknackt benahmen. Konnten die nicht einmal normal sein? Und normal hieß z.B. so wie Lisa, Britta und Inga.

    Auch mit einigen Büchern, die Helene Bukowski erwähnt, war ich in der Kindheit vertraut. Dass es immer nur ein Quotenmädchen gab, war auch mir nie aufgefallen bei Zora, Ronja oder der Ostversion von Oz, dem „Zauberer der Smaragdenstadt“. Wenn ich mich an diese Bücher erinnere, fällt mir eher die Feststellung ein, dass die coolsten Helden mal wieder Mädchen waren. Der Scheuch ist doch wirklich keine Gestalt, die zum Rollenvorbild taugt. Und der eiserne Holzfäller war merkwürdig: Einerseits interessierte er mich, denn seine Sehnsucht hatte auf dunkle Weise irgend etwas mit dem zu tun, was ich in den kindgerechten Heine- oder Goetheauswahlen gelesen hatte, allerdings blieb dieses Sehnsuchtsgerede merkwürdig folgenlos für die sonstigen Taten dieser Figur, und auch er war ansonsten unakzeptabel eindimensional. Ich glaube, dass die Erklärung für dieser Mangel an Mädchenfiguren nur manchmal jene Quotierung ist. Eher ist es doch so, dass diese Bücher gezielt eine weibliche Figur in die Jungs-Umgebung einfügen, um zu zeigen: Ein Mädchen darf auch Jungs-Dinge tun und ist trotzdem (vielleicht gar: erst recht?) cool. Das war in der Entstehungszeit dieser Bücher oder selbst noch zur Entstehungszeit meiner Ausgaben in der Adenauerzeit, sicher noch eine sehr moderne Botschaft. Denn die Mädchenklassiker jener Generationen enthielten ja deutlich mehr als eine weibliche Rolle für die Quote (etwa Else Urys Nesthäkchen oder Anne Mühlhaus‘ Häschenschule), ohne dass man sie gerade als Speerspitze des Antisexismus betrachten möchte. Oder noch schlimmer in Emmy von Rhodens „Der Trotzkopf“, wo sozusagen die Domestizierung der Frau vorgeführt wird, die sich langsam die Kanten abstößt und sich am Ende willig einfügt in ein passenden Frauenrollenmodell. Ungefähr das, was Butler an dem Satz „Ich fühle mich wohl als Frau“ kritisiert. Dennoch nehmen meine Ausführungen der Pointe von Helene Bukowski natürlich nicht die Spitze ab. Wenn man sich als Frau unter Frauen in „Jungs-Situationen“ verhalten will, verstummen die Rollenvorbilder offenbar oft. Die Reiche der Ungleichheit scheinen immer wieder unendlich ...
    Dennoch, Kästner und Lindgren gaben, zumindest zu ihrer Zeit, eher fortschrittliche Antworten. Für TKKG mag die Diagnose Quotenmädel stimmen, ich könnte z.B. Kalle Blomquist und „Pinky“ hinzufügen, in denen die Mädchen nicht so im Vordergrund stehen und die damit eher Jungs-Bücher sind. Allerdings kann man nicht nur Mädchen dies Selbstbewusstsein vermitteln, sondern es auch mal den Jungs sagen, dass starke Frauen ganz schön cool sind, auch wenn sie sich in Jungs-Dinge „einmischen“.
    Natürlich verhalten sich die Jungs in diesen alten Büchern manchmal ostentativ rücksichtsvoll, und die Mädchen sind im Zweifelsfall auch mal etwas zartbesaitet. Meine Schwester oder meine Spielkameradinnen waren da deutlich robuster und hätten mir wahrscheinlich einen Vogel gezeigt, wenn ich solche Allüren von Ritterlichkeit an den Tag gelegt hätte. Aber selbst das mag ich nicht bloß auf das Alter der Bücher schieben. Es geht ja, wenn man erfolgreich Jugendbücher schreiben will, nicht nur darum, was man selber über das Verhältnis der Geschlechter glaubt, sondern auch darum, was das Publikum einem als lebendigen Charakter abnimmt. Man kann als „realistischeR“ ErzählerIn selbst mit den besten Absichten nicht sehr weit springen, ohne die Glaubwürdigkeit zu verlieren. Dann gilt man allenfalls noch als IdeologIn. Die wenigen befragten Studentinnen, die über ihre Trotzkopf-Leseerfahrungen etwas berichten konnten, haben mir z.B. allesamt versichert, dass nicht die wilde Hauptfigur sondern eher die ruhigere Nellie für sie eine Identifikationsfigur abgegeben hätte.

Aber man kann es natürlich auch umgekehrt problematisieren: Ein Mädchen, dass jeden Tag mehrere Fotos von sich macht, regelmäßig Schminktipps zur Kenntnis nimmt und Intimrasur betreibt, wäre in einem Jugendbuch der 80er wie eine Überzeichnung weiblicher Eitelkeit erschienen; heute wäre das eher eine realistische Gestalt, die vielleicht besonders zum Rollenvorbild taugt, weil sie z.B. ihren Lebenstraum verfolgt, eine Schlagzeugkarriere zu starten, während ihre Klassenkameradinnen Heidi Klum schauen? Man könnte natürlich versuchen, hier wieder eine feine Scheidung einzuführen: Sexistisch wäre eine solche Figur nur dann, wenn die körperpflege- und körperbildbezogenen Schilderungen einen zu breiten Raum einnehmen, während die besonderen Pläne der Protagonistin kürzer treten müssten? Dann fiele man aber auf die Position der deutschen Kritik des 19. Jahrhunderts am französischen Realismus (und am Naturalismus) zurück. Knapp gesagt: Diese AutorInnen wendeten sich nach Meinung jener KritikerInnen zu sehr dem Schmuddeligen, Niederen des Menschen zu. Der Mensch sei etwas Bedeutenderes, Idealeres. Ein vorgezeichnetes Menschenbild schränkte den Blick auf die Wirklichkeit ein, indem es nur solche Felder menschlichen Wirkens als literaturfähig auswies, in denen der Mensch sich in seiner moralischen Größe als entscheidendes Individuum zeigen konnte.

Man kann natürlich auch diese ganze Argumentation ihrerseits als sexistisch durch den Hinweis entlarven, dass Kulturtechniken, die besonders von Frauen ausgeübt werden, tendenziell immer der männlichen Abwertung unterliegen. (So verteidigt z.B. Katharina Herrmann weibliches Blogverhalten und weibliche Lesestrategien vom Dienstmädchenroman zum Young Adult Genre). Das Argument ist sicher bedenkenswert, (in der Selfie-Kultur etwa liegt ja auch ein Moment der Selbstermächtigung und Ausübung des Rechtes am eigenen Bild). Aber nicht alles, was Frauen für gewöhnlich tun, wird dadurch schon antisexistisch und ich habe als Antisexist auch ein Interesse daran, eine Frauenkampfsportgruppe von anderem, wie einem Häkelzirkel, zu unterscheiden.
    Wie ein altes Buch heute moderner wirken kann als ein jüngeres, kann auch der eigene Erfolg den Effekt, den man mit seinen modernen Sichten auf die Welt als AutorIn erzielt hat, ebenso wieder nivellieren. Emil, Lottchen, Ronja und die anderen „zeitlosen“ Charaktere verdrängen ja als Klassiker, bei denen Eltern sicher sind, etwas Gutes zu bekommen, auch andere und vielleicht bessere Bücher mit aus heutiger Sicht moderneren Rollenbildern aus den weihnachtlichen Einkaufstüten? Vielleicht aber bloß rosa Prinzessinnen, Einhörner oder Star Wars-Bilderbücher?


Nicht nur Frauenrollen


Wenn wir gemeinsam Indianer spielten, wollten oft Jungs und Mädchen gleichermaßen Harka sein, aber das konnte immer nur eineR
. (Meist einigten wir uns dann so, dass es keiner war.) Meistens blieben die Frauenrollen unbesetzt; es sei denn, ein Mädchen wollte einem Spiel, das sie nicht vorgeschlagen hatte, einen Sinn abgewinnen, indem auch ihre Babypuppe darin einen Platz fand. Aber selbstverständlich war auch sie gehalten, zu den Waffen zu greifen, auch wenn von so etwas (fast) nie im Originalwerk die Rede war. Schließlich waren die Dragoner, gerade wenn sie von Red Jim aufgestachelt wurden, gefährlich Leute. Aber wenn dann beschlossen wurde, dass auch jemand im Krieg die Kinder versorgen müsse, wenn sich gar herausstellte, dass zu deren Schutz auch noch zusätzlich Krieger abkommandiert werden müssten, dann hatten eben die übrigen umso mehr List und Tatkraft aufzubieten, um der Lage Herr zu werden. Hätte uns jemand versucht zu erklären, dass Harka doch nun mal ein Junge war, und eine Frau ihn nicht spielen könne, hätten wir verständnislos reagiert. So einer hatte eben nicht verstanden, wie wir spielten. Denn schließlich waren wir ja z.B. auch keine Indianer und hatten keine richtigen Waffen und Pferde, deshalb konnten wie ja sowieso nicht „in echt“ Indianer sein.
    Man weiß, dass Menschen, die eine gewisse Zeit in der virtuellen Realität sich eines farbigen Avatars bedienen, damit messbar längerfristig rassistische Vorurteile abbauen
. Ich glaube Rollenspiele in den Phantasiewelten der Literatur können einen ähnlichen Effekt haben, zumindest autoaggressive Komponenten des Sexismus bei Frauen abzubauen. Ich habe deswegen auch etwas Angst davor, wenn die Kinderliteratur ihre Rollenvorbilder – und seien sie noch so modern – zu nahtlos anpasst an die Kinder wie bequeme Schuhe. Wenn wir die Welt der Kinder mit immer ganz genau passenden Geschichten zupflastern, entsteht dann nicht eine falsche Gewissheit, die der aktuellen Version von Realität eine sinnreiche Plausibilität und Unhintergehbarkeit andichtet, die die Vision von ihrer Veränderbarkeit blockiert?¹⁰
    Ich habe ein anarchisches Erzählen da immer als zeitloser und entgrenzender angesehen in seinem antisexistischen Impuls. Das gleiche gilt für die Kinderlyrik, wo sie sich nicht um einen allzu „angemessenen“ Ton bemüht oder darum in Balladen realistische Bilder von der Welt zu geben, aber selbst da können ein paar metrische oder lautliche „Husarenstücke“ (Ann Cotten) noch manches relativieren.

Für Kinder gilt, was man ansonsten über marginalisierte Gruppen sagen muss: Sie haben das Bild, dass man auf sie projiziert, gar nicht in der Hand – es setzt sich zusammen aus den Traditionen der Kinder-, Jugend- und pädagogischen Literatur. Was da alles mitschwimmt, ist Gegenstand ständiger Vergesslichkeit: Natürlich war in den 20er Jahren selbst das Nesthäkchen, das man auch heute noch neu erwerben kann, verglichen zu den Kinderbuchklassikern der Zeit etwa Campes „Robinson“, der damals noch in Neuausgaben kursierte, ein vergleichsweise „fortschrittliches“ Buch.
    Bei Klassikern wie Austen oder Jane Eyre wiederholt sich möglicherweise dieser Effekt des Fortschleppens im Jugendalter?
    Immerhin sind „Jane Eyre“ und Austens Romane gerade deswegen so beliebt, weil sie auch so zeitlos romantische Rollenbilder stark machen. Man kann das lesen, aber bitte mit Härte, alle Ansatzpunkte suchend, wo sich Distanz zur damaligen ökonomischen Misere und den Rollenbildern der Zeit findet. Gerade das in den Vordergrund rücken, woran junge Frauen hart gesprochen, manchmal „vorbeiflennen“! (Und damit das hier nicht ein sexistisches Klischee bleibt: Ich denke an junge Frauen meiner Bekanntenkreise, die früh an Heirat dachten.) Und ich kanns so gut verstehen! Wie perfide vorbeigehend an der eigentlichen Kunstleistung kam es mir einst vor, den ökonomischen Subtext von Müller/Schuberts „Schöne Müllerin“ zur Kenntnis zu nehmen. „Zugereister Mann, der nichts als romantische Gefühle zu bieten hat, versucht, eine Eheanbahnung mit der Tochter eines Kleinindustriellen, die sich aber dann für einen Partner aus der lokalen Elite entscheidet.“ Aber die Liebe! „Eigentlich geht es doch gar nicht um die Frau, er beschäftigt sich doch ständig mit sich“. Also beim Romantikspezialisten am Literaturinstitut habe ich nicht gelernt, was mit meiner östlich-bildungsbürgerlichen Kinderstube hier nicht in Ordnung war, sondern bei taffen Frauen.
    Um den Literaturdiskurs weniger sexistisch zu machen, schauen antisexistisch Interessierte offenbar nicht nur auf das Geschlecht der VerfasserIn und einer Ausgestaltung von Rollenbildern, sondern auf das Kleinklein der Konventionen. Und das geht dann bei vielen Texten. Mit Silvia Bovenschen in den süffigen Liebesdiskursen von Rilke oder George das schizophrene Idealbild von Weiblichkeit als Phantasma  erweisen, mit Jean Rhys‘ „Wide Saragossa Sea“ den kolonialen Blick in „Jane Eyre“ auffinden, den eines alten weißen Mannes in Roland Kochs „Ins leise Zimmer“. In diesem Roman, der am Deutschen Literaturinstitut spielt, wundert sich der Held, ein Gastdozent, angesichts der Immatrikulationslisten, dass er ostdeutsche nicht von westdeutschen Studierenden unterscheiden kann, stößt auf eine Studentin, staunt über deren prätentiösen Namen, rät, ein Einzelkind, nach einem Starvorbild benannt, dass die unausgesetzte Liebe seiner Eltern erfuhr. Dass Jana einfach zu der Zeit in der Gegend ein weit verbreiteter und ziemlich gewöhnlicher Mädchenname sein könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. An anderer Stelle wundert er sich über die ungeschickt nachlässige Bekleidung einer Studentin und setzt die Beschreibung durch die Feststellung fort, dass man sie als Mensch wahrnehme und nicht als Frau. (Insgesamt ist das Buch aber eher ein Roman über den erotischen Frühling eines situierten Herrn und als DLL-Heimatliteratur nicht sonderlich geeignet.)


Verwirrte Arbeitsbeziehungen


Ich habe sehr spät die Querflöte erlernt, ein Instrument, das man in bildungsbürgerlich konservativen Kreisen gern jungen Mädchen in die Hand gibt.
    Wer ab einem bestimmten Alter noch gern musiziert, hat sich in der Regel mehr Beschäftigungszeit mit dem Instrument akkumuliert als ich.
    Wenn ich mich also mit einer Spielpartnerin verabrede, dann wäre es eigentlich sachlich geboten, dass die Erfahrenere in dieser Arbeitsbeziehung die Führungsrolle übernimmt. Ich versuche auch jedes Mal erneut eine solche Arbeitsbasis herzustellen, was meist in leerlaufendem Hin und Her  endet. Diese Frauen vertrauen mir einerseits offenbar genug, dass sie auch ohne die Zügel zu halten, auf ihre musikalischen Kosten kommen, andererseits haben sie offenbar vor allem ein Unwohlsein dabei, die Führung selbst zu übernehmen. Natürlich spüre ich auch als Mann bei mancher Entscheidung, die zu klein ist, um jedes Mal ausdiskutiert zu werden, Unsicherheit, ob ich richtig liege. Ich ahne aber, dass eine Gewohnheit in sexistischem Umfeld für manche Frau es offenbar noch einmal heikler macht, zu einer möglicherweise falschen Entscheidung gegenüber einem Mann zu stehen. Manchmal wünschte ich mir einen jüngeren weiblichen Avatar, um diesem sachlich unbegründeten Rollentausch zu umgehen.
    In dieser speziellen Form der Arbeitsbeziehung wird sichtbar, dass ein als produktiv empfundener Umgang, z.B. im Seminar, bereits all die Rucksäcke projektiver Erwartungen enthält, dass manche Frau aus Gewohnheit manchmal schweigt, wenn sie ein Beitrag von ihr zu vorherigen Positionen in Gegensatz bringt, lieber einem Mann den Platz lässt usw. Zu diesem Rucksack gehört in bürgerlichen Kreisen allerdings nicht bloß Passivität. Es gehört auch eine öffentliche Sanktionsmacht dazu, dass sie sich auf den gepflegten Ton und die Zurückhaltung des männlichen Gegenübers verlassen kann, etwas, das ich hier, bewusst altertümlich, beim sexistischen Namen Ritterlichkeit nennen möchte. Man kann zum Beispiel kurz auf Redezeitanteile verweisen, eine als zu stark empfundene innere Beteiligung des anderen als Unsachlichkeit brandmarken usw. (Ich brauche das hier nicht im Einzelnen darzustellen, es sind genau die Entwertungen, die vielen Frauen aus Kontexten und Gruppen bekannt sind, in denen die Meinung vorherrscht, dass Frauen sich am besten überhaupt nicht einmischen.) Wenn dieser ausgeklügelte Kompromiss aus gegenseitigen Kompetenzzuschreibungen
¹¹, Gewohnheiten und projektiven Erwartungen zerbrochen wird, kann dies von Fall zu Fall genauso von einem sexistischen Mann geschehen, wie vom Arbeiterkind, dass mit den Gepflogenheiten gegenseitiger Zurückhaltung nicht ganz so vertraut ist.

Auf die Gefahr hin, dass so etwas immer kalt berechnend wirkt, versuche ich hier mal diese Mechanik der Intuitionen, die dafür verantwortlich ist, dass man Gesprächsräume einnimmt und freigibt, an einem kleinen Beispiel aus dem Studium am Literaturinstitut zu rekonstruieren.
¹²  EinE StudentIn hat einen Text vorgestellt über den im Anschluss gesprochen werden soll. Gewöhnlich ergibt sich nach dem Vortrag eine mehr oder weniger lange Gesprächspause. Nach meinem Germanistikstudium mit Schwerpunkt strukturalistische Literaturanalyse gelang es mir in der Regel zügig, zu einem gegebenen Text eigene Positionen zu entwickeln. Ich schaue aber zunächst, ob jemand anders ansetzt zu reden. Ist dies nicht der Fall, biete ich Ideen an. Nach einer Weile merke ich, dass ich oft als Erster rede, kenne meine MitstudentInnen aber inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich mich nur am schnellsten einbringe. Offenbar warten auch andere, bevor sie losreden etwas ab, eine Zurückhaltung, die demjenigen eine Chance bietet, dem zu reden besonders wichtig ist. Diese Zurückhaltung ist also jedes Mal eine Art Gefälligkeit gewesen, die ich angenommen habe, indem ich das Schweigen nutzte. Also fange ich auch selbst an in den Fällen, wo meine Ideen mir selbst nicht dringlich sind, sondern bloß ein erstes Angebot darstellen sollten, etwas länger zuzuwarten. Denn diese Gegengefälligkeit, auch mal zurückhaltend zu sein und „nicht überall seinen Senf dazu zu geben“, wird einem notorisch dort besonders abverlangt, wo ein Thema allen wichtig und das Gut der Redezeit besonders knapp ist.


Artefakte im Sexismusradar


Selbstverständlich profitiere ich davon, als Mann in öffentlichen Kommunikationssituationen von langer Hand geübt zu sein. (Wahrscheinlich ist diese Übung von der Dorfschule her noch einmal ausgeprägter: An einem guten städtischen Gymnasium hätte ich mich wohl weniger öffentlich üben und mehr zurücknehmen müssen.) Je nach Umfeld mag mir auch habituell eine größere Kompetenz zugeschrieben werden.
    Andererseits fühle ich mich – als weißer Mann mit reicher Marginalisierungserfahrung als dicker christlicher Fremder auf dem DDR-Dorf – manchmal, als trüge ich als privilegierter weißer Mann nur eine Kriegsbemalung. Und diese Kriegsbemalung ist ein Problem, denn natürlich muss ich mich fragen lassen, ob ich z.B. allein von der Redezeit her, nicht sexistisch männlich das Wort ergreife? Ja, selbstverständlich – und nein, es beginnt beim Redeansatz. Als Symptom gilt: Wer unterbricht wen? Die Linguistik unterscheidet zwei Arten eines kürzenden Eingriffs in die Rede des Anderen. Dem Dazwischen-Quatschen wird der sogenannte überlappende Gesprächsanschluss gegenübergestellt. Es ist statistisch gut beforscht, dass Frauen diesen Gesprächsanschluss häufig nutzen, um sich gegenseitig zu unterstützen. Auch ich benutze ihn gern. Es passiert mir allerdings oft, dass dieser Gesprächsanschluss bei mir, wegen meiner „Kriegsbemalung“, von einer Frau als Akt der Aggression wahrgenommen wird. Man muss mich offenbar gut kennen, um meine Redeabsicht nicht ins Destruktive zu verstellen. Natürlich liege ich mit diesem stützenden Anschluss auch manchmal falsch, natürlich verletze ich manchmal Status und Stolz der Sprechenden, wenn ich etwas, das als gutes neues Argument empfunden wurde, implizit durch zu schnellen Anschluss als bereits bekannt hinstelle. Natürlich verfüge ich mitunter auch über die Fähigkeit im scheinbar positiven Anschluss ein Argument so umzudeuten, dass es die intendierte Kraft verliert. Aber meist geht es mir doch darum, meine diskursive Erfahrung in die Waagschale zu werfen, ein Argument gegen einen antizipierten Gegenangriff resistent zu machen und das nicht – schon wieder die Kriegsbemalung – weil ich so ritterlich bin, sondern weil mir die Rede des anderen am Herzen liegt.
    Besonders lästig wird mir diese Kriegsbemalung in Gesprächen über Antisexismus. Getriggert durch das Thema und stets auf der Suche nach stützenden Fallbeispielen wird der überlappende Gesprächsanschluss dann für einen Mann unmöglich.
    Oder zu Hause: Wenn ich von einem meiner männlichen Gäste verlange, sein sexistisches Verhalten einzustellen, werde ich mich (mindestens in seiner Propaganda) dem Vorwurf männlichem Alpha- Gebarens aussetzen. Ich könnte zuwarten, bis das Unwohlsein allgemeiner wird und eine Frau die Initiative ergreift. Allerdings steht, selbst wenn jemand anders einen Eingriff schon erwägt, dem wieder entgegen, dass man den Gastgeber in der Regel für so etwas zuständig sieht und dessen Nichthandeln schlimmstenfalls dann als stillschweigende Billigung der störend männlichen Performanz missdeutet wird.
    Der Punkt dürfte klar sein. Wie Darja Stocker genervt davon ist, dass ein Protagonist nicht mal einfach so einen migrantischen Hintergrund hat, ohne dass sich das auf der Bühne für sein Handeln als bedeutsam erweist, habe ich auch als männlicher Antisexist ein lebhaftes Interesse daran, dass mein Handeln nicht immer nach einem sexistischen Schema semantisiert wird. Es kann sich auch für einen am Antisexismus interessierten Mann sehr eklig anfühlen, auf sein Geschlecht reduziert zu werden. Heterosexuelle Männer werden vom Aussehen einer Frau manchmal berührt, reden sogar darüber, mitunter ohne geschmacklos zu werden, insbesondere ohne dabei gleich an consummatio matrimonii zu denken.
¹³ Klar lässt sich ein „gewisser“ Zusammenhang zwischen beidem unterstellen. Nur: Ich werfe meiner Partnerin auch nicht vor, sie denke ständig an Sex, wenn sie mit mir z.B. über Kinderplanung reden will, obwohl natürlicher Weise zumindest das eine ohne das andere nicht geht. Manchmal braucht man gegenseitig nur etwas Zutrauen, und ich möchte Männern weiterhin „zumuten“, auch anders zu können. Ein Sexismus-Vorwurf ist erst ab dem Moment legitim, wo das Thema „Aussehen“ als falsches Thema ein richtiges ersetzt, was in Universität und Literaturbetrieb allerdings oft der Fall ist. Immer mehr desselben bis zum Generalverdacht – da schlägt ein feines Antisexismusradar in Sexismus um. Das kommt vor und ist bestenfalls ein Symptom dafür, wie leidvoll der Sexismus sein kann.


Arbeitsbeziehungen jenseits des Sexismus?


Einer meiner damaligen Dozenten führte häufig den Spruch im Munde „Ein gutes Gedicht kommuniziert, bevor es verstanden worden ist.“ Dies mag eine persönliche Ansicht sein, in der Lehrsituation eines Schreibinstitutes erzeugt so ein Spruch weitreichende Wirkungen, denn wenn einE TeilnehmerIn ein Gedicht im Gegensatz zum Dozenten schätzt oder ablehnt, wird sie damit jenseits des sachlichen Dissenses zusätzlich ins Unrecht gesetzt. Sie kann noch so beredt ein Gedicht verteidigen, weil es den Dozenten, wenn es gut wäre, ja bereits im Vorhinein hätte ansprechen müssen. Ihre Gegenmeinung kann nicht mehr die Oberhand gewinnen. Sollte eineR StudentIn im Gegensatz zum Dozenten ein Gedicht dagegen unplausibel sein, wird es stattdessen daran liegen, dass sie nicht sensibel genug ist. Die StudentIn kann nun ihren Konflikt nicht mehr auf dem Boden der Sache austragen, sondern muss, will sie Recht behalten, die Autorität des Dozenten als Ganzes in Frage stellen. (Soweit der Dozent beliebt ist, steht damit die ganze Seminargemeinschaft in Frage und gegen sie.)
    Ähnliche Auswirkungen hat der harmlose Satz eines sich vorstellenden Dozenten: „Wenn ein Gedicht Qualität hatte, waren wir uns in der Redaktion immer schnell einig.“ Die Qualität eines Gedichtes zeigt sich also am einigen Urteil der „Berufenen“. Lobt einE TeilnehmerIn ein Gedicht im Gegensatz zum Dozenten, behält schon durch den bloßen Umstand eines solchen Gegensatzes der Dozent recht, kritisiert sie ein Gedicht im Gegensatz zum Dozenten, kann dieser, wenn er sich mit nur einigen TeilnehmerInnen einig weiß, auf den Konsens der Sensiblen und Wissenden verweisen. Auch hier wird also eine Sachfrage zu einer Frage der charakterlichen und epistemischen Ausstattung (Sensibilität, Belesenheit etc.) „umgelogen“. Auch solche Leerformeln über Gedichte, wie das Zu- oder Absprechen von „innerer Notwendigkeit“ „Stimmigkeit“ oder „Dringlichkeit“, sind eine Möglichkeit, das von Berta Belly zu Recht so heftig kritisierte eigene Bauchgefühl zum objektiven Textmerkmal zu nobilitieren. Denn der Witz dieser „Begriffe“ ist ja gerade, dass sie so unersetzlich sind. Niemand könnte angeben, welche objektiven gemeinsamen Merkmale Texte denn haben mögen, denen wir diese Eigenschaft zu- oder absprechen. Solche Seminare tendieren dazu, eine Hierarchie auszubilden, an deren Spitze diejenigen als die Klügsten stehen, denen es am besten gelingt, der jeweiligen Orthodoxie des Dozenten zu folgen. Es steht zu vermuten, dass es die mit den ähnlichsten Lesebiografien aus demselben Milieu sind. Mit der Aufspaltung des Jugendliteraturmarktes in Mädchen- und Jungs-Bücher wird sich der diskriminierende Effekt einer solchen Aufspreizung und Ausnutzung des Umstandes verschärfen, dass sich die akademische LehrerIn einfach oft etwas länger mit der jeweiligen Materie beschäftigt hat, als ihre StudentInnen. Die DozentIn muss dazu keinerlei negative Meinungen über Frauen hegen, es reicht, wenn sie autoritär ist. Allerdings lassen sich auch generellere Fragen nach Sexismus so leicht zu Einzelfällen verpersönlichen. Auch hier mag ein Beispiel aus der Fiktion helfen: Eine Studentin in Kochs „Leisem Zimmer“ vertritt in seinem Seminar die These, dass Literatur immer eine moralische Haltung haben sollte. Diese These trifft die Hauptfigur so unvorbereitet, dass die Frage danach, ob sie denn ihren Nietzsche nicht gelesen habe, noch das Triftigste ist, was ihm einfällt. Dennoch gelingt es ihm in der Erzählung, sie vor dem ganzen Seminar als naiv herabzusetzen, ohne auf Widerspruch zu treffen. Wäre er nicht auf die persönliche Ebene der charakterlichen Ausstattung gewechselt, sondern hätte sachlich gefragt, wie sie denn eine solche Position jenseits eines engen Common Sense-Moralismus verteidigen würde, hätte das eventuell anders ausgesehen?
    Viele junge Mütter fragen sich, warum die intensiven Erfahrungen der Mutterschaft sich so schwer in ein zeitgemäßes Gedicht einbringen lassen. Sich jedes Mal mit den Worten „Man kann das ja machen, aber nicht so!“ zu bescheiden und darauf zu verweisen, dass ihr Text z.B. zu kitschig, zu wenig anschaulich etc. wäre, ist vielleicht nicht das letzte Wort? Es ließe sich ebenso gut darüber wundern, warum solche Themen sich notorisch schlecht in die angesehenen Gedichtmodelle integrieren lassen, und ob mit unseren Qualitätsmaßstäben für Gegenwartsgedichte etwas nicht in Ordnung ist, wenn das (ähnlich wie politische Aussagen) ständig draußen bleiben muss?
¹⁴ In Verhältnissen, wie den jetzigen am Literaturinstitut, wo Hierarchien nicht zusätzlich künstlich auf Festen aufgewertet werden, in dem die Diversität auch widerstreitender Entwürfe von Literarizität stets sichtbar bleibt, haben StudentInnen eher die Möglichkeit, sich dem Autoritätsspin und dem damit platzgreifenden Reich des Unsagbaren mental zu entziehen.


Das Leipziger Institut früher und später


Ich kann die Eindrücke, die Martina Hefter und Anke Stelling vom Institut um oder kurz nach 2000 geben, gut bestätigen, auch wenn ich erst drei Jahre später dort mein Studium begann. Damals gab es nicht nur keine Sexismusdebatte, sondern überhaupt keine irgendwie gesellschaftspolitischen Gespräche. Es gab zwar einzelne junge AutorInnen, die politische Themen bearbeiteten (Algerien, Gewalt), aber selbst, wo der Bezug sich biografisch ergeben haben mag, eher im Sinne der recherchierten Zuwendung auf ein Problemfeld. Sie wurden misstrauisch beäugt dabei, und der Gedanke, dass Politik etwas sein könnte, das direkt vor unserer Nasenspitze mit uns geschieht, war allen fremd. Man selber war ein Subjekt, das der Sphäre des Politischen zunächst einmal grundsätzlich enthoben war, weil man sich selbst ja genug reflektierte. Eine Festigkeit beruhend auf einer gut durchdachten und argumentierten Position wurde nicht von einer Scheuklappe unterschieden. Der Hinweis auf die persönliche Betroffenheit von einem gesellschaftlichen Missstand wurde eher wie eine Ausrede dafür verstanden, sein Problem nicht kraftvoll genug anzugehen. Beim Studentenstreik 2003 waren wir genau vier Leute, die sich wenigstens am alternativen Kulturcampus der Uni beteiligten. Heute scheinen gesellschaftspolitische Diskussionen am Literaturinstitut seit langem einen festen Platz zu haben. Und gesellschaftspolitische Argumente stehen nicht unter Generalverdacht.

Die erste einigermaßen institutsweite Sexismusdebatte, an die ich mich erinnern kann, fand ca. 2005/06 statt, also zu einem Zeitpunkt, als die Würfel in Bezug auf die damals zu vergebende Professur bereits gefallen waren. Heute werden diese Debatten nicht nur geführt sondern auch gehört, wie der Verlauf der Ausschreibung der Treichel-Nachfolge mich belehrt.
    Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Spruch wie „Am Institut studieren keine richtigen Männer“ heute noch im Umlauf kommen könnte, ganz gleich, wie sich das Männer-„Angebot“ seit der ersten Hälfte der Nullerjahre entwickelt haben mag.
    Schon vor meiner Aufnahme als Student 2003, an allem interessiert, was an diesem Ort passiert, war ich mit einigen Studentinnen dort befreundet. Unter ihnen gehörte es sozusagen zum guten Ton, die erotischen Qualitäten einiger Dozenten gemeinsam zu beschwärmen. Schwärmereien mögen nach wie vor vorkommen, aber sozusagen als kollektive Umgangsform unter Kommilitonen war das dann zumindest 2006 schon weitgehend außer Gebrauch. Dozent-Studentinnen-Beziehungen nahmen und nehmen längst nicht mehr diesen prägenden Raum ein, wie ihn Martina beschreibt. Dass eine solche Bindung gar nochmals so patriarchale Züge (sanft und melancholisch, aber deswegen nicht minder) annimmt, wie es in Roland Kochs „Ins leise Zimmer“ beschrieben wird, ist kaum denkbar. Wesentliches hat sich geändert: Das Institut inszeniert sich nicht mehr gegenüber seinen StudentInnen und MitarbeiterInnen wie früher. Noch bis zu Beginn meiner Studienzeit wurden Erfolge, oder das, was die Institutsleitung für solche hielt, in öffentlichen Ansprachen der Studentenschaft präsentiert und durch Applaus bejubelt. Es wurde vorgeführt, dass „wir“ gut waren und bei genügend Anstrengung jeder in solch einem Glanz erstrahlen könnte. Der rein faktische Inhalt dieser Reden konnte allerdings jedem Interessierten vorher bekannt sein. Solche Bräuche inszenieren künstlich eine besondere Fallhöhe zwischen oben und unten, deswegen war ich froh, als diese Reden einfach aufhörten, als hätte es sie nie gegeben. Zumindest, wer bereits ein bissel Uni anderweitig erlebt hat, muss zu Studienbeginn nicht mehr in Ehrfurcht erstarren, unter welche hochmögenden Leute man hier geriet, sondern wird sich rasch in die Arbeitsatmosphäre einfinden. Dazu mag auch der Umstand beigetragen haben, dass 2006 die dritte Professur endlich besetzt wurde. (Vorher waren beide Professuren mit Vertretern realistischer Prosa besetzt, die sich zwar unbestreitbar um Breite bei der Wahl der GastdozentInnen bemühten. In ein oder zwei Semestern konnten diese eher nur einzelnen Studierenden nachhaltige Impulse geben, ihr Einfluss reichte aber kaum so weit, mitzumoderieren, welche literarischen Leitbilder – neben dem breit Vertretenen – noch als tragfähig in Umlauf kamen.) Nach der Besetzung der dritten Professur hingegen waren unterschiedliche Entwürfe dessen, worum es beim Schreiben gehen könnte, ständig in Konkurrenz präsent. Dadurch sind Studierende in viel stärkerem Maße genötigt, nicht nach außen zu fragen, was denn die Literatur ist, sondern sich selbst klar zu werden, was sie denn von der Literatur wollen. Dadurch hat sich am Literaturinstitut aus meiner Sicht ein größeres Sensorium für Unterschiedlichkeit ausgeprägt, und der Fetisch Begabung spielt nicht mehr eine so große Rolle. Denn daran erinnere ich mich auch noch, dass mein Versuch, etwas über die Soziologie der StudienbeginnerInnen in Erfahrung zu bringen, bei meinen Mitstudierenden im Jahr 2004 auf wenig Gegenliebe stieß. (Mir war z.B. aufgefallen, dass die Altersstreuung bei männlichen Bewerbern merklich geringer war als bei weiblichen. Anhand genauerer Daten hätte man herausfinden können, was dem zu Grunde lag. Auch schien es privilegierte Herkunftsorte zu geben. Während meiner Studienzeit gab es 5 StudentInnen mit Bezug zu meinem vorherigen Studienort.) Man hatte wohl Sorge, ich wollte ihre Begabung wegsoziologisieren? Man war begabt, deswegen war man hier. Auch künftige Erfolge hatten stets von oben aus dem Betrieb herabzuregnen. Als wir damals Lesungen ohne die offizielle DLL-Marke durchführten, wurde mit der Nase gerümpft: Das machten offenbar nur die, bei denen das Talent nicht reicht und die sich deswegen dem Publikum aufdrängen müssen … Dass das Kompliment der Auserwählung geheiligt war, blockierte also die Selbstermächtigung. (An einem Germanistikinstitut dürfte es diese besondere Quelle der Verdrängung nicht geben.) Auch ich habe z.B. das Fräuleinwunder am Institut noch erleben dürfen und versichere: Wir machten uns im Einzelfall sehr viel Mühe damit, herauszufinden, warum das Urteil der durchreisenden Journalisten so drastisch von unserem gemeinsamen Eindruck abwich. Zunächst war jemand, der es in die Medien schaffte, zu unserer Zeit vor allem erstmal irgendwie besser als wir. Wir unterschieden nicht mal richtig, ob er es mit einer Rezension in die Süddeutsche oder auf eine mehrseitige Fotostrecke in einem Magazin brachte, denn wie gesagt: Dass gesellschaftliche Verhältnisse etwas waren, das sich vor unserer Nasenspitze abspielte, war damals in unseren Köpfen gar nicht vorgesehen. Es gab also nicht nur positiven Sexismus, er pflanzte seine Wirkungen auch in unsere Köpfe fort, und das literarische Gespräch musste davon erst wieder mühselig entbogen werden. Es musste erst mühselig wieder gemeinsam erarbeitet werden, dass es nicht automatisch eine höhere Qualität bedeutet, wenn man dem Voyeurismus älterer LeserInnen durch Konzentration auf jugendliche Lebenswelten entgegenkommt. Es musste erst neu erarbeitet werden, dass ein Prosatext über Beziehungen auch dann ein hervorragender Text über Beziehungen sein kann, wenn er ein wichtiges Thema darin wie Sex nicht so gründlich behandelt. Es musste neu erarbeitet werden, dass literarische Kommunikation über Markennamen und andere vorgefertigte Bruchstücke kultureller Codes ständig in der Gefahr steht, schnell zu veralten. Es musste neu selbstverständlich gemacht werden, dass Judith-Hermann-Sentimentalität mindestens eine Geschmackssache ist, wie ausschwei-fendere Syntax, und dass letztere weder altmodisch sein muss, noch unpersönlich oder gar angeberisch sein usw.
¹⁵
    Angesichts zahlreicher literarischer Projekte heute, darunter auch die mit Genderfokus, sind solche Probleme wohl kaum nachvollziehbar.
    Die heutigen Leipziger nutzen auch stärker die Möglichkeiten der Stadt. Zwar hat es mich unendlich weitergebracht, dass das Institut eine Art Familie war, wo man ständig aufeinander verwiesen war und sich nicht aus dem Wege gehen konnte. Aber damals dachten wir noch: Was Literatur ist, wissen wir am besten. Vielleicht hat dieser Fokus auf die Frage: Was will ich von der Literatur, dazu geführt, dass man auch mehr schaut, was es noch so gibt? Vielleicht hat die „Hypezig“-Berichterstattung dazu beigetragen, dass viele Leute von vornherein auch wegen der Stadt da sind? Die Intensität sinkt zwar, man ging irgendwann nach Lesungen weniger in die Kneipe und früher nach Hause … aber der Gedanke, dass das Institut Kräfte und Spannungen aus vielen Szenen zusammenführt, und darunter auch welche aus den zahlreichen Angeboten zum Thema Antisexismus, gefällt mir sehr gut.
    Als ich als Dozent 2015 die Bewerbungsgespräche mitmachte, habe ich auch gestaunt, wie offen sich die DozentInnen, insbesondere einer, den ich als sehr rigide in dieser Hinsicht aus der Studienzeit in Erinnerung hatte, gegenüber literarischen Entwürfen und Projekten zeigten, die ihnen sichtlich ferner standen, weil sie offenbar einrechneten, dass man mit anderen Erfahrungen auch manchmal zu schwerer vermittelbareren Ausdrucksformen vordringt.
    Wenn die Texte von derzeitigen Studentinnen auf dem Merkur-Blog aus Leipzig teils weniger engagiert klingen als etwa Martinas oder Ankes, liegt das nicht (nur?) daran, dass das Thema diese beiden Frauen besonders lange begleitet, sondern vielleicht auch daran, dass das Literaturinstitut ein kleines aber wichtiges Wegstück vorangekommen ist?


Hildesheim lesen


Es wäre natürlich Quatsch, wollte ich, so besonders unberufen wie einer nur sein kann, der nie in Hildesheim war, konkret etwas zur dort laufenden Debatte sagen, zumal der große Knall zumindest ausweislich des Dlf-Interviews vom 25.07.2017 ja nun zumindest teilweise in konstruktive Zusammenarbeit zu münden scheint. Vorausschicken möchte ich auch, dass es mir nicht darum geht, persönliche Lebensleistungen hier zu bewerten. Und zu diesen Leistungen gehört eben, ständig Kritik von vielen Seiten aufzufangen und nicht immer im gewünschten Maß zu beachten. Nicht nur, weil jeder Mensch Grenzen hat, sondern weil, was dem einen sin Uhl, dem andern als Nachtigall erscheint.

Weil wir hier ja in einem breiteren Rahmen diskutieren und gegenseitige Projektionen in dieses Feld gehören, könnte es allerdings nützlich sein, hier mein aus Texten von Hildesheimern geschlossenes Bild des dortigen Instituts kurz vorzustellen. Nicht mit dem Anspruch auf Wahrheit, sondern als Beispiel für eine bestimmte Art von Sichtweise – es geht sozusagen um mein persönliches Hildesheim-Bias.
    Um die Zeit meines Studienbeginns in Leipzig präsentierte einer der festangestellten Professoren aus Hildesheim eine Theorie in der Öffentlichkeit. Sie schied schriftstellerische Begabung in drei Felder, offenbar in ähnlicher Weise wie ein anderer Versuch, von dem ich im Germanistikstudium erfahren hatte, dass er in der Adenauerzeit als der jüngste Schrei aus Amerika galt. Ich dachte: Wenn es eine solche allgemeine Kartierung der Kreativität gibt, wird Schreiben zu einer Art Kochkunst. Ich sah keinen Sinn darin, das verbreitetste Vorurteil gegen die Lehrbarkeit von Schriftstellerei ausgerechnet dadurch zu triggern, dass man auch noch für sich in Anspruch nahm, die vollkommene Übersicht auf diesem Feld zu verkörpern. Ich wollte zwar auch etwas lernen, aber doch bitte im gemeinsamen Forschen, ich wollte dies darum gern gemeinsam mit Menschen tun, die sich selbst deutlicher die Möglichkeit zugestanden, noch überrascht zu werden.
    Eine Ahnung, die ich lange hege und die sich nach Lektüre des Bandes „Irgendwas mit Schreiben“ verfestigt hat (ein Bias ist ja auch immer in der Tendenz, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu werden), ist, dass Hildesheimer Absolventen einige Topoi in Berichten über ihre Studienzeit häufiger hervorheben als Absolventen anderer Institute. Ich frage mich, welche Bedeutung es hat, dass dies folgende drei Punkte sind. 1. Hildesheim ist ein Leidensort. 2. Wenn ich dort hinkomme, fühle ich mich klein und es macht mich beklommen, was für beeindruckende Leute ich hier treffe. 3. Ich neige dazu, von den großen Aufgaben des Studiums vollkommen überfordert zu sein.
    Alle diese Punkte können ganz verschiedene Ursachen haben. Es könnte die Art, in Hildesheim Essayistik zu lernen, z.B. dies als stilistische Marotte zusammenführen: wer dramatisiert, erzeugt Interesse, etwas Leid ziert den Künstler ja auch, und wer sich klein inszeniert und auf die Großen anderen zeigt, zeigt sich geschickt uneitel usw.
    Das Leiden resultiert darüber hinaus ja offenbar auch daraus, dass die Stadt so klein ist. (Aber sooo klein sind doch Stadt und Uni auch nicht? Warum ist man so abgeschottet? Manchmal denke ich: Vielleicht ist es auch zu elitär?) Und ich habe mich in Leipzig manchmal gewundert, warum es so wenig konkrete Aufgaben gibt, man so stark auf den ganz eigenen Weg der Kreativitätsentfaltung zurückverwiesen ist. Man kann auch da natürlich scheitern, aber nicht an einer nennbaren Herausforderung.
    Dennoch passen diese drei Beobachtungen merkwürdig gut zu einem anderen Puzzle: Könnte es sein, dass die Hierarchien in Hildesheim etwas überspreizt sind, sodass der Abstand zwischen der kleinen meist Studentin zum großen Dozenten etwas weiter aussieht als er müsste? Können anspruchsvolle Aufgaben, neben dem wünschenswerten Effekt der persönlichen Herausforderung, diesen Weg mühseliger aussehen lassen, als es immer gut tut? Könnte das Ziel, so weit entfernt, schwerer sichtbar sein, sodass es fälschlich so aussieht, als müssten alle den einen Weg gehen, obwohl etwas links oder rechts davon auch noch ein Weg abzweigte, der auch auf ein lohnenswertes Ziel führt?
    Dieses Bild ähnelt etwas dem Bild, das das Leipziger Literaturinstitut vor vielleicht 15 Jahren auf mich machte. (Sie hätten aber damals kein Prosanova hinbekommen, die Tippgemeinschaft wurde gerade erfunden) Das hieße aber auch, dass der Sexismus eventuell nicht das ursprüngliche Problem Hildesheims wäre, sondern nur sein vielleicht misslichster Ausdruck (andere Ausdrücke wären die, die Stefan Mesch oder Florian Kessler dafür gefunden haben): Dass hierarchische Fallhöhen leicht gewisse Positionen ins Schweigen rücken lassen, weil man ein sachliches Problem zu oft auf der persönlichen Ebene, der der erworbenen Kenntnisse und charakterlichen Fähigkeiten, verhandelt.
    Die Debatte um das Sexismusproblem, wiewohl sie die Ursache dann eher mittelbar in den Blick nähme, könnte dennoch der beste Hebel der Problemlösung sein, weil stets genug Mitstreiterinnen anwesend sind, die ein energisches Interesse an einer Lösung haben.
    Ich erkenne im Bild meines Puzzles einige Ähnlichkeiten mit dem Bild des Institutes wieder, das Rea Mayr mit ihren Entschlüssen zu überwinden trachtet.


¹ Bis auf drei einzelne Wörter,  bewusste Setzungen, die sie für sprachliche Nachlässigkeiten hielt, sind alle Änderungsvorschläge eingearbeitet, alle von ihr gewünschten Belege nachgetragen worden.

² Kürzungen hatte ich ohnehin bereits dem Belieben der Redaktion anheimgestellt.

³ Mich mit einem Thema intensiv zu beschäftigen, heißt für mich noch jedes Mal, mit dem Common Sense der Großöffentlichkeit in Konflikt geraten, der sich dann mehr oder minder rüde geltend macht.
Besonders misslich ist auch hier das dauernde Reden von „Aufgeregtheit“, oft begleitet vom fragwürdigen Pejorativ des „Männerseelchens“. Hier wird die zwangsheterosexuelle Männlichkeitsnorm, die man zu bekämpfen vorgibt, reininszeniert und gegen einen um Anderes bemühten Sprecher gekehrt. Heiligt der Zweck hier wirklich Mittel dieser Geschmacklosigkeit?
⁵  
Eher wie etwa Lügen, wo regelmäßig die Unaufrichtigkeit des einen, alle anderen das Vertrauen ebenfalls kostet.
Ich habe mich im Einzelfall entschlossen, was das betrifft, hier oft lieber zu schweigen. Selbst noch eigenes Leid kann ja, ungeschickt dargeboten, anderen eigene Verletzung bedeuten.
Die Realistik gerade dieser Bände wurde für uns dadurch noch bestärkt, dass wir auf einer Autofahrt, (für Kinder im Vorschulalter sehr weit weg, es mochte also gut schon die geheimnisvolle Gegend Schweden gewesen sein), ein Dreigehöftdorf als Bullerbü wiedererkannten. Da unsere Mutter solche Legenden liebte, bestärkte sie uns in diesem Glauben. Zwar kamen bald Zweifel auf, aber bis ich in einem Atlas lesen konnte, konnte ich meine Mutter des monströsen Betrugs nicht vollkommen sicher überführen, dass Bullerbü in der Nähe des für Kinder leicht merkbaren Ortes Schwaan läge.

Lieselotte Welskopf-Henrich „Die Söhne der großen Bärin“.

z.B. PLOS 1 April 24, 2017, Béatrice S. Hasler, Bernhard Spanlang, „Mel Slater Virtual race transformation reverses racial in-group bias“, darin auch ein Verweis auf die ersten mir darüber bekannten Arbeiten von Domna Banakou.
¹⁰
Dass die Jungs in der DDR-Schule das Liedchen „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“ mitsangen, wo es darum ging, dass man dann noch etwas im Haushalt macht, während die Mädchen im Lied „Soldaten sind vorbeimarschiert“ bekannten, dass sie, wenn sie groß sind, einmal Soldat der Nationalen Volksarmee würden, verstand sich von selbst. (Dass das doofe Lieder waren, ist eine ganz andere Frage.)
¹¹
Es weiß ja keiner, wie viel Maß an Einbringung im Einzelfall das gemeinsam fruchtvollste wäre - man weiß ja nicht, was andere noch bieten werden.
¹²
Da ich im nächsten Kapitel über Veränderungen am Literaturinstitut spreche, zeige ich hier an, dass die Erfahrungen, die ich in diesem und im nächsten Kapitel schildere, sich wesentlich auf die Jahre 2003-2006 beziehen.
¹³
Dass die Sorge vor dem Begehren des Anderen z.B. Joselinde Zieglers Auffassung des Sexismusproblems wesentlich speist, zeigt besonders deutlich ihr Beispiel aus der Kletterhalle: Männer helfen dort, wie ihr ein Berichterstatter sagt, deshalb gern Frauen, weil sie sie gerne beim Klettern anschauen. Sie wählt damit ausdrücklich einen Fall, den sie nur vom Hörensagen kennt, weil es sich buchstäblich hinter ihrem Rücken abspielt.
    Wir müssen Joselinde Ziegler vertrauen, dass ihr Vergil vertrauenswürdig ist, weil sie ihm vertraut. Wir tun das auch unmittelbar. Stellen wir uns vor, jemand anders widerspräche: „Nein in unserer Kletterhalle kommt so etwas nicht vor, da schaut man auch schon mal, ob die anderen sich da richtig benehmen.“ Wir würden diesen Menschen entweder für einen Abwiegler oder einen unreflektierten Naivling halten – bis er uns vielleicht erklärt, dass deswegen die Kletterhalle der lokalen antisexistischen Initiative ein so angenehmer Ort sei.
    Und so haben wir auch bei Joselinde Ziegler unausgesprochen einen Grund, ihrem Vergil zu trauen, und der besteht darin, dass wir bereits unterstellen, was wir vorgeben, gerade erzählt zu bekommen. Wer immer Joselinde Ziegler beim Klettern etwas erklärt, hat keine Chance, sich von dem Verdacht zu befreien, er könnte ein hilfsbereiter Mensch sein, der es sich extra möglichst versagt, vielleicht nicht einmal besonders versagen muss, sie unbeobachtet anzusehen. Er käme allenfalls von dem Verdacht los, wenn er weniger hilfsbereit wäre. Ich möchte nicht in einer Welt leben, wo so mit mir umgegangen wird.
    Wenn jemand sich die deutschen Meisterschaften im Synchrontrampolinspringen ansieht, unterstelle ich ihm dann, er sei Sexist? Unterstelle ich es ihm, wenn er zugibt, dass die Darbietungen der Frauen ihn stärker beeindrucken? Oder ist das einfach Ausdruck seiner Heterosexualität? Was macht den Fall eines Betrachters in der Kletterhalle anders? Der Blick in der Kletterhalle, ist an sich noch nicht entwertend/sexistisch etc., selbst wenn er als männlicher Blick vorzüglich Frauen gelten mag.
    Der Geschmack des Übergriffigen und damit Sexistischen vermittelt sich erst durch einen anderen Umstand: TrampolinsprortlerInnnen geben in ihrer Teilnahme am Wettbewerb implizit ihre Einwilligung, Bestandteil einer öffentlichen Darbietung zu sein, während Joselinde Ziegler wohl wissend, dass sie im öffentlichem Raum Blicken ausgesetzt ist, ihrem Handeln nicht den Charakter einer Darbietung verleihen wollte. Mir ist schmerzlich bekannt, dass man solche Probleme haben kann. Ich fahre z.B. auch höchst ungern mit kurzen Hosen in die Stadt. Ich habe eine sehr weit reichende Scham aus dem Umstand, dass ich nackte Männerbeine für weniger als legitim in der Öffentlichkeit kodifiziert halte als unbekleidete Frauenbeine. Ich möchte sie lieber nicht zum Gegenstand ungewollter öffentlicher Darbietung machen. Mir mangelt es auch nicht an Empathie, einzusehen, dass dies Problem für Frauen in einer sexistisch verfassten Welt häufiger auftritt, und dass darum besondere Schutzrechte mitunter nötig sein könnten.
    Mir mangelt es aber sehr an Phantasie, welches Schutzrecht in der konkreten Situation das angebrachte sein könnte, wenn man jemanden bittet zu helfen und demnach auch zu schauen, ob man diese Hilfe richtig umsetzt.
    Denn Joselinde Zieglers Scham realisiert sich vollkommen außerhalb der Reichweite irgendmöglicher Handlungsoptionen ihrer männlichen Kletterfreunde. Wer in diesem Handeln ein Beispiel für Sexismus sieht, weist seine Bedeutungen selbst unbewusst oder bewusst sexistisch zu. Genau so funktioniert sprachliche Diskriminierung. Wer also schlimmstenfalls eine bestimmte antisexistische Haltung unter die Beispiele für Sexismus subsummiert, der thematisiert nicht Sexismus sondern inszeniert durch klischierte Typologisierung eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Auch ihre anderen Beispiele lassen auf wenig Bereitschaft der Autorin schließen, die eigenen Vorurteile mitzureflektieren. Ihre Konstruktion will offenbar nahelegen, dass Sexismus eine Art (unbewusster?) Aggression ist, die stets von männlicher Seite ausgeht. Diese Beobachtung, dass ein scharfer Antisexismus droht, in sexistischen Feminismus zu kippen, kann ich auch an (zum Glück nur) wenigen anderen Texten der Merkur-Debatte machen. Aus Raumgründen verzichte ich vorerst auf weiter Belege zu dieser Bemerkung.

¹⁴
Ob solchen Normen z.B. manchmal simpel das zu Grunde liegt, was Pädagogen ein Einstellungssyndrom nennen.
¹⁵
Interessanter Weise hätte man sie vielleicht eher als Männergewohnheit angesehen, statt sie zur Frauenmarotte zu stilisieren, so kurzlebig können offenbar manchmal sexistische Pejorative sein!

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