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Àxel Sanjosé: Anaptyxis

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Jan Kuhlbrodt


Sprossvokale



Mit Anaptyxis legt Àxel Sanjosé, der 1960 in Barcelona geboren wurde und seit 1978 in München lebt, nach Gelegentlich Krähen (2004) seinen zweiten Gedichtband vor.

Ich gebe zu, den Titel musste ich nachschlagen, ich ärgerte mich aber zugleich, nicht Linguistik studiert zu haben, nicht weil ich nachschlagen musste, das gehört zum Geschäft, aber wegen der Bedeutung des Wortes, denn bei einer Anaptyxis handelt es sich nach meinem Fremdwörterbuch um die Bildung und Entfaltung eines Sprossvokals. Sprossvokal, ein herrliches Wort. Davon kann ich mir einige Vorstellung machen, ob sie den Gegenstand treffen, weiß ich nicht, doch es macht Spaß, darüber nachzudenken, sicher auch hinsichtlich einer wachsenden Gelehrtheit, aber vor allem auf Grund der Vorstellungsinhalte. Und damit sind wir im Grunde auch gleich inmitten des Gedichtbandes. Er spielt Formen durch, sicher auch hinsichtlich ihres Sprießens. Es findet sich darin zum Beispiel auch ein Sonett, das Südliches Sonett heißt, und dessen abschließende Dreizeiler so lang sind, dass sie im Querformat gedruckt werden mussten, um Majakowskische Stufenzeilen zu vermeiden. Die Vierzeiligen Strophen hingegen bestehen aus der Regel entsprechenden Alexandrinern, als wolle das, was die Form in Strenge zurückhält am Ende doch durchgehen. Das zu lesen (und zu sehen) macht Spaß. Hier der letzte Vers:


außer Traum und Saum, der selber sich verwischt. Ein nichts, dass nie erlischt, ein dicht'rer Schein, wie Gischt.

Anaptyxis besteht aus drei Teilen: Die Frühen Tage, Musterhalde und der dritte Teil ist schlicht mit einer römischen III bezeichnet. Ein Stück Archäologie steckt in allen drei Teilen, im ersten aber geht es Handfest darum. Man trifft auf Relikte, die man meint zuzuordnen, Zuordnung aber bedeutet Abgleich mit einer Kopfordnung, die der Betrachter mitbringt und Analogie. Wir begegnen also, wenn wir Vergangenheit begegnen, ob in der Alten Pinakothek oder im Zugfenster, unserer eigenen Spur – und Vergangenheit ist auch, was nicht so weit zurückliegt. Am Ende des Gedichtes Bewandtnis heißt es:

Ein würdiges Wahrzeichen
dieses Abwesens,
komm lass uns gehen,
die Dinge sind und sind,
die Luft klumpt sehr.


Der zweite Teil des Buches ist, wenn man so will und wie das Sonettgedicht schon angedeutet hat, der Form gewidmet, der in Struktur verfestigten Vergangenheit also, die zuweilen, wenn man sich allzu sklavisch an sie hält, zum Gefängnis werden kann, wie wir aber am Sonett schon sahen, findet Sanjosé einen produktiven Umgang mit der Überlieferung und das, was an ihr Information ist, kostet er aus, das tote Holz aber lässt er ruhig weiter verrotten. Im besten Fall wird es zum Humus für spätere Versuche. In diesem Kapitel steht an vorletzter! Stelle ein Epitaph, das ich hier gern zitieren möchte:


GRAB=SCHRIFT AVF IHN SELBST

DANN SATTLE ICH MEIN LINDENBOOT
DANN PUTZ ICH MEINEN SILBERKNA
VF DANN LEGE ICH MEIN WELTTVCH
VM VND GEHE BILLIG IAGEN


Im letzten Teil, dem ohne Titel, präsentiert Sanjosé im Grunde Naturgedichte. Aber diese Naturgedichte sind sich der sprachlichen und politischen Verfasstheit ihres Gegenstandes sehr wohl bewusst und natürlich spielt der Autor hier mit seiner Zweisprachigkeit. Ein Gedicht zum Beispiel heißt Holundersirup und der Autor gibt an, dass es aus dem Katalanischen übersetzt ist. Holunder, und auch der aus den Blüten gewonnene unglaublich schmackhafte Sirup ist aber eher mit Mittel-und Osteuropa verbunden, diesen Sirup konnte ich selbst zuerst in Ostbayern genießen.
Im Gedicht heißt es:


Schließ nicht die Augen.
Die Türme existieren nicht.
Wenn du verrückt werden musst,
wirst du es ohnehin werden.


Àxel Sanjosé ist etwas Überraschendes gelungen. Auf knappen Raum präsentiert er in diesem Band Gedichte, die trotz konzeptioneller Stringenz eine außerordentliche Vielfalt erzeugen, vielleicht nach dem Vorbild der Sprossvokale.



Àxel Sanjosé: Anaptyxis. Gedichte. Rimbaud Verlag Aachen 2013. 49 Seiten. 12,00 Euro.

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