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Asmus Trautsch: An der Nordsee küsste

Gedichte > Münchner Anthologie

Asmus Trautsch

An der Nordsee küsste

Die Kirschen zwischen die Schafe geflippt
der Koog wächst masthoch zum Damm
und hinter ihm schicken Quallenparaden
unsre Schachtelgedanken an Land

der Tide verdanken wir fallende Vorsicht
den Strudel aus Zufall und Witz
wir bauen mit Händen die eigene Hallig
ins grüne dithmarscher Licht

allein am Deich unter blauseidnen Böen
befreit sich die Warft unterm Hemd
und der Rest an Bedenken rollt ab in den Ebbstrom
es kabbelt schwarmgleich am Belt

unsrer Lippen die Möwen picken ins Watt
vergessen der Libanonkrieg
was jetzt nur noch zählt ist der Wasserstand unter
der Zunge das Fulaigeln im Schlick


Aus: Asmus Trautsch: Treibbojen.
Berlin (Verlagshaus J.Frank) 2010, S.59.

Tobias Roth:

Elemente neuer Bukolik



Man kann nicht behaupten, dass pointierte Wortspiele, Kalauer und Konsorten in der Lyrik nichts verloren hätten. Dass die schlechten Wortspiele und Kalauer dagegen eine Pest und eine erdrückende Mehrheit zudem sind, lässt sich nicht bezweifeln. Wäre es nur alles so gut wie der Titel An der Nordsee küsste, hätte ich mir diese zwei prätentiösen Einleitungssätze sparen können. Gleich im Titel verschmelzen (!) eine Landschaft und eine erotische Szene, während gleichzeitig die Trennung von Lyrik und Gesang rückgängig gemacht wird, ein utopischer Salto. Das Lied An der Nordseeküste, das durchlautet, taugt freilich nicht vollends zur durchgreifenden Interpretation (bei aller Liebe zum weiten Textbegriff), aber zu bemerken ist an diesem humoristischen vers de dreit nien dann doch, dass er in Ansätzen kosmologisch argumentiert (Nach Flut kommt die Ebbe, nach Ebbe die Flut, also die Entsprechung zur Feststellung vieler alpenländischer Volkslieder Auf der Alm, da geht der Wind) und in der dritten Strophe zwei bedeutende Tiere einführt: Schafe und Seehunde.
Dass Schafe und Seehunde unter lyrischen Gesichtspunkten geradezu identische Tiere sind, dazu später mehr; beide jedenfalls machen sich in An der Nordseeküste akustisch, gar lyrisch bemerkbar: Die Seehunde singen ein Klagelied und die Schafe blöken wie blöd auf dem Deich. In An der Nordsee küsste hingegen bilden die Schafe die Struktur der Landschaft erst aus (von einer Küste war ja noch überhaupt keine Rede), sie bieten die Zwischenräume, in die sich der Mensch einbringt und in die er die Reste und Zeugen seines Genusses flippt; sie leisten und zeigen, allgemeiner gesprochen, durch ihre Präsenz im ersten Vers die Korrespondenz zweier Rhythmen: die optische Rhythmisierung der Landschaft durch Zwischenräume und die zeitliche Rhythmisierung der Menschen im Kirschverzehr. Weiter noch? – mein Gott, schon zwischen Titel und erstem Vers geschieht An der Nordsee küsste einiges, das Schaf entbirgt und lichtet, es rhythmisiert und kontextualisiert, Wölkchen aus Jargon bilden sich, aber es lässt sich zum Glück auch kürzer sagen: Durch das Zusammenspiel des Titels und der menschlichen Gegenüber im ersten Vers werden die Schafe zu bukolischen Schafen.

Das Schaf freilich gehört nicht der Bukolik allein, aber in ihr erfährt es seine Präzision. Liefert es bei Lukrez (II,317ff.) die Metapher auf die Wahrnehmung des gesamten Geschehens des belebten Kosmos, verfeinert es sich bei Vergil (ecl.I,21) zum Indikator des ruhigen, geglückten Lebens; stellt es bei Herder (Abhandlung über den Ursprung der Sprache, I,2) den Einsatzpunkt für die Entwicklung der gesamten Sprache dar (Ha! du bist das Blökende!), verbildlicht es, wenn es aus eigenem Antrieb zum Melktrog kommt, bei Dante (ecl.I,62) das gelingende, leicht fließende Schreiben. Gemeinsam mit der Bukolik erstickt es im Laufe der Zeit im Pastell (es ist ein oft übersehenes historisches Faktum, dass Marie Antoinette für die Vergewaltigung der Bukolik, etwa im Hameau de la Reine im Garten des Petit Trianon, hingerichtet wurde und nicht aus politischem Antrieb) und wird so frei für neue Bedeutungen, ohne freilich die alten je abstreifen zu können. Die Schafe von Asmus Trautsch unter der Wasseruhr der Kirschkerne werden zu Elementen einer Struktur der Rückgewinnung, Rückholung, die sich ihrerseits als Gattungsanspielung auf die Bukolik artikuliert, sich aus Elementen einer neuen Bukolik zusammensetzt. Gewiss geben Schafe auch andere Strukturen; der Herr ist unser Hirte und Odysseus klammert sich an seinen Ausweg aus der Höhle des Polyphem. Ebenso der Plural, die Herde, wie sie uns bei Trautsch begegnet: mit bukolischer Evidenz, nichts als zweifellose Ruhe und dabei doch die völlige Komplikation. Darüberhinaus leuchtet es ein, dass die Schafe hier nicht als fraktale Tiere, als Farbwerte und Ganzfelder von Weiß, gleichsam leere Leinwände fungieren (wie momentan etwa bei Hawkey, Wagner, Wolf, Schneider, eng verwandt, etwa Winkler, mit den zeitgenössischen Ausprägungen von Schnee und Milch), nicht als Ausgelieferte an den menschlichen Irrsinn (Draesner), mithin nicht agnus dei, sondern ovis mundana, selbstredend nicht die Minderbemittelten aus Sprich- und Schimpfwörtern.

Bukolik, Schäferdichtung; ohne Schafe keine Schäfer und keine Schäferdichtung, möchte man meinen. Aber gewiss gehört mehr zur Bukolik als ein Schäfer bzw. streng genommen Rinderhirt (βουκόλος). Denn was nicht klar und streng genug gezogen werden kann, ist die Grenze zum oben bereits genannten Pastell, zur Idylle. Keine Idylle, aber dennoch ein geruhsamer, freundlicher Naturraum – allerdings, denn dafür ist die Welt der Bukolik groß genug, nur für einige. Im Unterschied zur Idylle hat eine Ekloge stets politischen Gehalt – wie uns bei Vergil die Heimatvertriebenen begegnen, die Zerstörung von Cremona wetterleuchtet, so begegnet uns bei Trautsch der Libanonkrieg. Er wird als vergessen bezeichnet, obwohl er ausgestellt wird. Er ist Teil der Welt, ebenso Küste. Eklogen sind bei aller Sehnsucht nach Frieden nicht behaglich; wenn hinten, weit, in der Türkei, ist die teilnahmslos-voyeuristische Perspektive des Bürgers beim Spaziergang vor dem Tore, nicht die des Schäfers, der mit der geschlossenen Siedlung hinter Wällen gar nichts zu tun hat. Aufgerufen und vergessen, das ist kein Widerspruch, es bezeichnet vielmehr die Unterscheidung von Szene und Beschreibung als zwei verschiedene Situationen. Diese Unterscheidung kann in die Ekloge hineingezogen werden (Vergil, I, passim) oder sie wird, wie bei Asmus Trautsch, dem Erzähler überlassen (was auf dem engen Raum von sechzehn Versen geraten erscheint), in jedem Falle aber drückt sich hier der Beginn des bukolischen Maskenspiels aus, des Spiels mit Fiktionen. Das ist das eigentliche Thema der Bukolik, unter dem sich die Inhalte der Bukolik (Natur, Erotik, Kunst) entfalten.

Ein prototypisches bukolisches Spiel geht etwa so: „Ein Schäfer singt von zwei Schäfern, von denen einer den anderen zum Gesang auffordert. Als Lohne verspricht dieser diesem einen geschnitzten Becher, der allerlei wachsende Pflanzen, summende Bienen und duftende Wiesen zeigt, inmitten derer zwei Schäfer vor einer begehrlichen Richterin um die Wette singen. Der Schäfer leistet der Aufforderung zum Gesang Folge und singt von einem Schäfer, die sein Liebesleid singt und dabei die letzte aller vierten Wände, die zwischen Menschen und Göttern, durchbricht und...“ In der Verzahnung dieser Ebenen liegt die Kunstfertigkeit, hier auch die Singularität jeder einzelnen Ekloge in der Gattung. Ein kürzeres bukolisches Spiel geht etwa so: „Gleich im Titel verschmelzen (!) eine Landschaft und eine erotische Szene, während gleichzeitig die Trennung von Lyrik und Gesang rückgängig gemacht wird...“ Das Verfahren wird zudem offener angesprochen als in vielen anderen Gattungen, die mit Fiktionalitäten experimentieren; denn dadurch entsteht eine weitere Ebene und auch der Leser oder Hörer wird in das Geschehen des Wechsels (der Gezeiten der Fiktionstiefe) miteinbezogen. Dadurch entstehen, mit einem Wort, unsre Schachtelgedanken.

Wie die Schafe die Landschaft öffnen, öffnen die Kirschen die Handlung, ihre Szenenfolge und auch ihre Vorgeschichte. Die Kirschen werden unter die Schafe geworfen, man könnte meinen, es handele sich bereits um Kirschkerne. Ohne diese Vorstellung aufgeben zu können, die der Text eben im Wurf aufruft, muss man aber zugeben, dass es sich um Kirschen und nicht um Kirschkerne handelt. Das gemeinsame Obstmahl ist also noch nicht beendet; es ist aber dennoch schon einige Zeit im Gang, da mit der Speisung der Schafe ein Spiel beschrieben wird, das nicht am Anfang des spielerischen Kirschverzehrs stehen kann, sondern aus diesem (come fior di fronda) hervorgeht – in dem Moment also, in dem die Grenzen allseits fallen und es im Schädel blüht (così de la mia mente tien la cima), setzt das Gedicht ein. Die Kommunion des erotischen Obstes ergreift und verbindet Mensch und Schaf, das heißt: Landschaft und Handlung, Raum und Zeit, zudem: im bloßen Partizip, einer allerjüngsten Vergangenheit, deren attributiver Wert abgerundete Gegenwart (nur grammatisch wohl kein Paradox) bedeutet. Das ist meine Kirsche, die für euch geflippet wird. Und sie ist ohne Zweifel ein erotisches Obst, was für ein wunderbares. Ein edles, weites Feld, wie es zu dieser Symbolik kam. Nur eine Stichprobe schon allein zur Schwerkraft der Kirsche, da ich gerade bukolozentrisch und vergilophil schreibe: Zu Beginn des dritten Buches der Aeneis will der Titelheld seiner Mutter Venus ein Opfer bringen und wählt dazu einen kleinen Hügel, buschartig wuchsen / Kirschen darauf, dicht starrten, gleich Lanzen, auch Äste von Myrten. Die Äste sollen den Altar schmücken, aber ein böses Omen kommt dazwischen. Kirschen also sind es, die für ein Venusopfer geeignet erscheinen; die zugleich martialische Bilder aufrufen und vergessen machen. Das aber ist die Schwerkraft eines Bildzusammenhangs und einer Szene, nicht die einer präzisen Obstsymbolik; die zitierte Übersetzung stammt von Wilhelm Hertzberg (1856), und bei Vergil selbst ist kaum von Kirschen und kaum von Lanzen die Rede, sondern von einem dichten Gestrüpp Hartriegel bzw. Kornelkirsche (quo cornea summo / virgulta et densis hastilibus horrida myrtus). Die Assoziation, die Hertzberg dazu brachte, dieses antike Bild etwas zu sehr in die Kirschen hinein zu drehen und etwas zu erotisch zu übersetzen, war sicherlich ihrerseits an der Antike geschult.

An der Nordsee küsste, was für ein wunderbarer erotischer Text. Die beteiligten Personen scheinen sich so nah aneinander zu schmiegen, dass sie für den Leser, ja sogar für das lyrische Ich selbst nicht mehr auseinander zu sortieren sind. Man muss nicht Pathos aufbringen und behaupten, sie seien eins geworden – es sei denn, man würde es lächelnd tun und ließe diese beteiligten Personen aristophanisch davonrollen. Die Aufhebung der Trennung breitet sich ruhig wie dies Licht vom Titel her aus und erscheint (in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister) mit grammatischer Sparsamkeit. An der Nordsee küsste, die Ellipse des Titels hintertreibt eine Unterscheidung in die Sphären des Subjekts und des Objekts, sie bleibt kippfigürlich offen, aber präzise und präsent – denn die Valenzen des Verbs leisten bereits, dass es dennoch dramatis personae gibt. Diese Personen wissen zwar, dass Dinge wie Bedenken und Vorsicht existieren, aber sie haben sie nur eingeladen, um sie hinauszuwerfen; an den Hemden interessiert die Unterseite. Die Einigkeit der Szene ist so groß, dass der gesamte Naturraum in sie hineingezogen wird – nicht nur als Bildgeber, sondern tatsächlich. Paraden erweisen dem Paar die Ehre wie in Giovanni Pontanos Lepidina. Schwarmgleich, das erotische Erleben vervielfältigt den Menschen in die Mannigfaltigkeit und Fülle der Natur hinein. Die Schäfer singen und die Wälder antworten; die Felsen beginnen zu weinen und die Flüsse halten ihren Lauf an; Tityrus liegt unter dem Dach der Buche und bringt den Bäumen bei, den Namen seiner Geliebten zu singen (Vergil I,1ff.), das Mädchen aber wirft, wie schon bei Theokrit, mit Äpfeln nach ihm. Kosmisch, freilich, aber dabei so genau benannt, dass sich auf der Landkarte nachsehen lässt, wo die Szene der Erfüllung und die Szene der Zerstörung liegen. Dieses Wechselspiel von realem Ort und flimmerndem Fiktionszustand ging in der Geschichte der Bukolik so weit, dass es heutzutage schier vergessen scheint, dass Arkadien ein Landstrich auf der Peloponnes ist; et in arcadia ego, selbstverständlich, dort gibt es sogar Autobahnen.

Die verschiedenen Wechselspiele und Schachtelgedanken stehen in enger Beziehung zur erotischen Landschaftsverschmelzung. Die Bewegung der Tide legt den Schauplatz erst frei, der sich also selbst in steter Bewegung befindet, genauer gesagt im Fluss (und als Fluss in diesem Fluss der Ebbstrom). Nach Flut kommt die Ebbe, nach Ebbe die Flut, und mit diesen Bewegungen fällt es und rollt es auch im Inneren und Äußeren der Menschen. Arithmetik ist verabschiedet, was zählt besteht gerade in jenem unzählbaren Fluidum der Gezeitenbewegung, die die Plätze des Lebens befreit und verschlingt; unzählbar transparent und ungreifbar wie das Blumentier Qualle. Das Auf und Ab ist nicht nur der Atemrhythmus der Landschaft und der erotischen Figuren, sondern auch der des Erzählers im gleichmäßigen Wechsel von vierhebigen und dreihebigen Versen, zumal in der gerundeten Form von vier mal vier, rundweg liedhaft. (Gerade an Formanlagen wieder dieser scheint es mir allzu deutlich, dass die Quadratur des Kreises nur Mathematiker noch umtreibt und für die Lyrik schon längst ein alter Hut ist; die Quadratur des Kreises besteht unter anderem in vier vierzeiligen Strophen.) Die Rundung zum Kreis hat eine klangliche Naht in der Assonanz des ersten und letzten Versendes geflippt/Schlick – das heißt: Landschaft und Handlung, Raum und Zeit. Rundweg liedhaft, auch das bukolische resonare, das Antworten der Wälder im unscharfen Echo, können wir hier wiederfinden, im sachten und subkutan verführerischen Assonieren der je zweiten und vierten Verse einer Strophe. Die Kombination dieser beiden assonanten Eigenschaften des Textes führt zu einer weiteren vertikalen Verbindung, denn in die Kreisnaht geflippt/Schlick assoniert auch der Krieg hinein. So wiederholt sich, wunderbar geschachtelt, das Gedicht erneut im Detail seiner Klänge.

Im Fluss binden und trennen sich die Elemente, die von Neigung und Begierde gezogen und gestoßen werden. Für die Landschaftsteile untereinander, für die Menschen untereinander, für die Menschen und die Landschaft, für das lyrische Ich und seine lyrische Form, für den Leser und den Text vor ihm heißt die Triebfeder Alma Venus. Und wenn ich auch kläglich wenig daraus mache, dass ich hier zum zweiten Mal den Namen des Lukrez fallenlasse, so möchte ich doch sagen, dass Lukrez zwar nie eine Ekloge geschrieben, aber den Zustand der epikureischen Glücksgenügsamkeit und Wahrheitszärtlichkeit bukolisch ins Bild gesetzt hat (II,29ff.).

Ich spreche beständig von Landschaft, obwohl wir uns am Meer befinden, denn wir brauchen einen neuen Philipp von Zesen, um endlich aufzuholen, was das Englische etwa mit landscape und seascape längst unterscheiden kann. Dann könnte man auch die Beschreibung der seascape in An der Nordsee küsste Friedrich Nietzsche überlassen, der das Meer vor den Augen Epikurs beschreibt, und mit ihm einen bukolischen Hoffnungshorizont. (Nur Hoffnungshorizont, da im bukolischen Horizont sich auch die Küsten des Libanons anzeichnen.) Ich sehe sein Auge auf ein weites, weißliches Meer blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, während großes und kleines Getier in ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie dies Licht und jenes Auge selber, [...] das nun an dieser bunten, zarten, schaudernden Meeres-Haut sich nicht mehr sattsehen kann: es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust. (Fröhliche Wissenschaft §45) Andrerseits ist es hier und jetzt überhaupt kein Problem, dass es im Deutschen kein Wort für seascape gibt, denn seascape gibt es auch im Gedicht nicht; An der Nordsee küsste bleibt tatsächlich an der Küste und kein einziger Blick fällt aufs offene Wasser.

Dieser Platz an der Küste strahlt die Ruhe eines Platzes im Kosmos aus, nicht so sehr eines Platzes etwa im Sonnensystem; neumodische Kränkungen wie die kopernikanische stellen kein Problem. Mensch und Umwelt sind in antikischer Manier optimal aufeinander abgestimmt weil Teil eines lebendigen Ganzen (der Kosmos ist ja bekanntlich ein Tier), und entsprechend greift auch das menschliche Maß des Protagoras als angebrachte These über den Rest der Welt. Erotik und überhaupt menschlichen Zusammenklang in Landschaftsbildern und Naturelementen zu beschrieben, ist schließlich keine olle metaphorische Spielerei. Der Belt // unsrer Lippen etwa macht nicht nur die Begegnung von Menschen zum Naturschauspiel, sondern auch den Weltbezug des Menschen zum Kuss; mehr noch, er setzt durch seine Position am Strophenbruch auch alle Strophen des Gedichtes in genau diese Beziehung (buchstäblich buchstäblich).

Nun mag man nach diesen Absätzen schließlich entgegenhalten, dass An der Nordsee küsste doch entschieden zu maritim ist, und nicht ländlich im Sinne von Wiesen und Schäfereien, im Sinne des Apennin und dergleichen, nichts vom mediterranen Relief der typischen Bukolik, wo das Lokalkolorit viel lieblicheres Zubehör liefere als Watt und Schlick und Quallen. Okkultere Tradition, aber Tradition: hier kommen die Seehunde ins Spiel, die bei Asmus Trautsch nicht auftauchen, aber zumindest An der Nordseeküste präsent sind. Die Bukolik kann den Schäfer mit dem Fischer vertauschen; Ansätze dazu gibt es schon beim Archegeten Theokrit, ausgespielt wird es von Jacopo Sannazaro mit seinen Eclogae piscatoriae, denen etwa schließlich Berardino Rota mit großer Anmut folgte. Die Szenerie verwandelt sich, aber die Strukturen bleiben kongruent. Aus dem Schutzgott Pan wird der Schutzgott Proteus (unter dessen Namen einer der besonders vorzüglichen Fischereklogen Sannazaros steht), nun zugleich Wappentier für die Mutationsfähigkeiten des Bukolischen zwischen Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi und Die Kirschen zwischen die Schafe geflippt. Proteus, der gestaltwandlerische Gott, der die Zukunft kennt, aber sie nicht preisgeben will, lebt im Nildelta als Schäfer – einer Herde Seehunde. Und so weiter. Da aber ein Exkurs zur Fischerekloge im 15. Jahrhundert vielleicht die Duldsamkeit des Lesers, der hier Kommentare zur zeitgenössischen Lyrik sucht, überbelastet, breche ich ab.

Nur eins noch zu Raum und Platz (place). Die Landschaft im grünen dithmarschen Licht, die Asmus Trautsch inszeniert, ist nicht zuletzt durch ihre Position in der Welt ein bukolisches Element. Im Band Treibbojen (2010) erhält das Gedicht die Mitte in einem Spannungsfeld, in dem sich alle Bukolik abspielt, dem Spannungsfeld namentlich von Stadt und Land, von Realität und Imagination: beides besetzt je einen Horizont, beides geht je erst auseinander hervor. Das Land wirst erst von den Sängern aus der Stadt erfunden und die Stadt konturiert ihre urbane Realität erst an dieser Ländlichkeit; und wo wir uns tatsächlich befinden bleibt rätselhaft, so gut wie vergessen. Auf halbem Weg zwischen Stadt und Land markieren Grabmäler mythischer Helden die Position, von denen allerdings nur die Namen übriggeblieben sind – die Taten vergessen, wichtig nur die Situierung in der Mitte: das Grab des Brasilas bei Theokrit (VII,11) und das Grab des Bianor bei Vergil (IX,60). Bei Trautsch wird diese Position durch die Zyklik des Bandes Treibbojen aktualisiert: An der Nordsee küsste steht zwischen den Gedichten Abend in Vineta und An eine Sängerin auf der Schönhauser Allee. (Die drei Gedichte gruppieren sich eng im Band auch ohne die Zuhilfenahme kolorierter Initialen.) Wer möchte da nicht sein? Kirschkerne flippen und weidlich fulaigeln? Hier, in allerletzter Konsequenz, formuliert natürlich auch die Bukolik eine Idylle. Sie macht aber keinen Hehl daraus, dass sie selbst für prälapsale Menschen nicht zu haben ist; auf diesen Platz kann man nur hoffen. Il se prit à me prier et reprier avec une extrême affection, de lui donner une place, so überliefert Montaigne die letzten Worte des Étienne de La Boétie; und wenn ich schon behaupte, es wäre nicht zu haben, dann muss man auch zu diesem Gedicht von Asmus Trautsch sagen, was Montaigne über Vergil gesagt hat: La poesie represente je ne sçay quel air plus amoureux que l’amour mesme.

Nun?

The woods of Arcady are dead,
And over is their antique joy;
Of old the world on dreaming fed;
Grey Truth is now her painted toy.


Hier irrt Yeats. Denn Arkadien als Landschaft wird uns allesamt so oder so überleben, mit allem, was seine Schafe und Kirschen bedeuten können. Darum noch ein anderes Schlusswort, salbungsvoller, von Clemens Brentano, den man auch in diesen Versen eher an seiner Sehnsucht nach Bukolik als an seiner bukolischen Sehnsucht wird erkennen können:

Aber die Dichter
Machen die Glieder zum Leibe gern
Schneiden Gesichter
In einen Kirschenkern
Traurig und lachend, o gebe
Lieber der Erde ihn, daß er lebe
Blütenvoll
Früchtevoll
Dir und den Deinen himmlischen Segen
Gebe
Auf irdischen Wegen.

Asmus Trautsch





Tobias Roth

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