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ÀS VEZES SÃO PRECISAS RIMAS DESTAS / MANCHMAL BRAUCHT MAN SOLCHE REIME

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Ulrich Schäfer-Newiger

Hundert Jahre politische Gedichte in Portugal und Deutschland
 

Ende Oktober 2017 ist in Portugal eine Anthologie portugiesischer und deutschsprachiger politischer Gedichte aus hundert Jahren (1914 bis 2014) erschienen, auf die hier ausdrücklich aufmerksam gemacht werden soll.

Politische Poesie führt in Deutschland ein Schattendasein, auch wenn es zu 257.000 Suchergebnisse führen soll, wenn man den Begriff bei Google eingibt. Aber im Gerede, in der Diskussion, ist die politische Poesie nicht, geschweige denn, dass sie irgendwie oder irgendjemanden aufregt oder aufwiegelt.
    Und was ist überhaupt ein politisches Gedicht? „Für mich heißt ein Gedicht dann ein politisches Gedicht, wenn es ein politisches Thema hat, also der Anlass, das Gedicht zu schreiben, ein politischer gewesen ist, oder wenn der Autor mit dem Gedicht eine politische Absicht verfolgt und es in einen politischen Kontext stellen will.“ Diese Definition macht deutlich, dass es sich bei dem „Politisch“ um eine außerästhetische Kategorie oder Intention handelt mit allen Folgen für die sprachliche und poetische Qualität. Dieses ewige Problem der poetischen Qualität in politischer Dichtung soll hier aber nicht erörtert werden.
    Das Zitat ist dem von Joachim Sartorius 2014 herausgegebenen „Handbuch der politischen Poesie im 20.Jahrhundert“ mit dem Titel „Niemals eine Atempause“ entnommen, in welchem aus Deutschland und weiteren, verschiedenen Ländern und Kontinenten politische Gedichte (in ausschließlich deutscher Sprache) versammelt waren.¹

Die darin enthaltenen Gedichte aus dem deutschsprachigen Raum kann der Leser nun in der jetzt in Portugal erschienen Anthologie politischer Lyrik mit dem etwas umständlichen TitelÀS VEZES SÃO PRECISAS RIMAS DESTAS / MANCH-MAL BRAUCHT MAN SOLCHE REIME“ erneut wieder-finden (einschließlich des eben wiedergegebenen Zitates). Sie versammelt politische Gedichte aus Portugal und aus dem deutschsprachigen Raum der Zeit von 1914 bis 2014 und stellt sie – im wörtlichen Sinne – gegenüber. Es handelt es sich dabei um eine Art (allerdings längst fälliger) Wiedergutmachung an die portugiesische Literatur. Denn diese hatte Sartorius bisher schlicht nicht in seinem Fokus:

Schon in seinem „Atlas der modernen Poesie“ von Mitte der 90iger Jahre fehlte jeder Hinweis auf die portugiesischsprachige Lyrik. In seinem erwähnten Handbuch politischer Poesie im 20. Jahrhundert gab es ebenfalls kein einziges Gedicht aus dem portugiesischen Sprachraum.
    Es war die Idee der Direktorin des Goethe-Instituts in Lissabon (welches auch als Herausgeberin der Anthologie fungiert), Claudia Hahn-Raabe, dieses Manko auf besondere Art wieder zu beseitigen. Herausgekommen ist dabei ein bemerkenswertes – und auch im alten positiven Sinne des Wortes – schönes, handwerklich hervorragend gemachtes Buch: Auf über 500 Seiten und in 135 Texten von 93 Autoren wird ein poetisches Bild des politischen Geschehens in Portugal und Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis ins 21. Jahrhundert gezeichnet. Die frühere Sammlung von Sartorius wurde um sechs Autoren erweitert. Der Leser wird mehrmals darüber aufgeklärt, dass die deutschen Texte im Wesentlichen aus dem „Handbuch“ von Sartorius stammen.
    Die deutschen, von Joachim Sartorius ausgewählten Texte, sind ins Portugiesische übersetzt. Alle portugiesischen Texte wurden von dem Autor und Übersetzer João Barrento und der Übersetzerin Helena Topa sowie dem Literaturwissenschaftler Fernando J. B. Martinho ausgewählt und sind ins Deutsche übertragen. Insgesamt waren 14 Übersetzer beteiligt, darunter Helena Topa und João Barrento oder auch Odile Kennel und Inés Koebel, um nur einige zu nennen. Jeweils steht die Originalversion des Textes auf der linken Seite, ihr gegenüber findet sich die Übersetzung, ggf. mit erklärenden Fußnoten. Alleine diese handwerklich gelungene Form der Gegenüberstellung des Originals mit der in die jeweilige andere Sprache übertragenen Fassung macht dieses Buch zu einem Gewinn für alle, die sich für die politische Lyrik des jeweils anderen Landes interessieren
    Aufgebaut ist das Buch ähnlich wie das frühere „Handbuch“: In 12 zeitlich grob aufeinanderfolgenden, aber vorwiegend inhaltlich abgegrenzten Kapiteln werden jeweils deutsche und portugiesische Gedichte vorgestellt. Ihnen vorangestellt sind ausführliche Essays zum jeweiligen geschichtlichen Thema. Die die Sammlung einleitenden Ausführungen von Sartorius mit dem Titel „Aus Resten Poesie“ – aus dem die eingangs zitierte Definition des politischen Gedichtes stammt - sind überwiegend wörtlich aus seinem Handbuch entnommen und ergänzt um einige Hinweise auf portugiesische Dichter, die z.B. den Abwurf der Atombombe 1945 verarbeiten. Die „Einleitung“ selbst stammt von Fernando J.B. Martinho und unterrichtet vor allem über die seiner portugiesischen Auswahl zugrundeliegenden poetologischen Überlegungen. Die Kapitel tragen jeweils Titel, z.B. „Das Monster will Blut“ – in ihm sind Gedichte aus dem 1. Weltkrieg und über 1. Weltkrieg enthalten. Das letzte Kapitel trägt den Titel „Die Mär von der Modernität.“ Es enthält freilich nur drei Bespiele aus dem deutschsprachigen Raum (Walter Mossmann, Friedrich Christian Delius und Sarah Kirch), die alle aus dem 20. Jahrhundert stammen.
    Jedes Kapitel beginnt mit einer einleitenden Vorbemerkung über den geschichtlichen Rahmen und mit Hinweisen auf einige der Autoren. Am Ende des Buches befinden sich instruktive, zweisprachige biographische Notizen über alle Autoren.
    Die vorgenommene Auswahl der Texte ist subjektiv, das kann nicht anders sein. Aber sie ist zum Teil auch nicht nachvollziehbar, insbesondere was die deutschsprachigen Textbeispiele betrifft. Sartorius hat beispielsweise bei der Ergänzung seiner früheren Auswahl nicht die Chance genutzt, ein oder zwei Texte von Helga M. Nowak aufzunehmen. So wird diese außerordentliche Lyrikerin, die Brecht formal wie inhaltlich in nichts nachstand, was die politische Lyrik angeht, den portugiesischen Lesern vorenthalten. Stattdessen wird das längst vergessene „Lied vom Wirtschaftswunder“ aus dem Film „Wir Wunderkinder“ (von einem Günter Neumann, der sich mehr als Kabarettist denn als Lyriker hervorgetan hat) in der Sammlung deutscher Texte beibehalten und wieder veröffentlicht. Zum 4. Kapitel „Der spanische Bürgerkrieg“ findet sich als deutscher Beitrag nur das Gedicht „Schibboleth“ von Paus Celan, welches lediglich durch die Wörter „No passaran“ und „Estremadura“ einen Bezug eröffnet. Unbegreiflicherweise fehlt dagegen ein Textbeispiel von Erich Arendt, der selbst im spanischen Bürgerkrieg kämpfte. Auf portugiesischer Seite findet man zum spanischen Bürgerkrieg ein Gedicht ohne Titel von Reinaldo Ferreira (1922-1959), der ansonsten bekannt ist als Texter des Fado „Uma Casa Portuguesa“, der durch Amalia Rodrigues berühmt wurde.
    Umgekehrt fehlt auf portugiesischer Seite u.a. der poetische Text, der die größte, unmittelbarste und denkbar direkteste politische Wirkung überhaupt in Portugal entfaltete, nämlich „Grandola, vila morena“ von José Afonso (von dem ein anderer Text im Buch zu finden ist: „Vampiros“, S. 286. In der Kurzbiographie fehlt aber jeder Hinweis auf das Lied; die portugiesischen Leser, unterstelle ich, werden freilich darum wissen). Und da es eine verlässliche deutsche Übersetzung bis heute nicht gibt (Franz Josef Degenhardts auf Deutsch gesungene Version ist keine Übersetzung, sondern ein eigener, neuer von ihm gedichteter Text), hätte man dieses Manko bei der Gelegenheit auch auswetzen können.
    Aber solche Einwände sind angesichts der handwerklichen und inhaltlichen Qualität des Buches zweitrangig. Für den deutschen Leser bietet die Anthologie – man möchte sagen: naturgemäß - eine Fülle neuer Entdeckungen. Denn von den 47 darin vertretenen portugiesischen Autoren ist gut die Hälfte bisher in Deutschland in keiner Anthologie oder Sammlung aufgenommen gewesen.² Neben Gedichtbeispielen von auch bei uns bekannten Namen wie Pessoa, Sophia de Mello Breyner Andresen (mit ihrem berühmten Gedicht ‚25 de Abril‘), Eugénio de Andrade, José Saramago, findet sich eine Reihe von Autoren, von denen es bislang in Deutschland nichts zu lesen gab.
    Als Beispiele seien hier genannt:  Gomes Leal (1848-1921) und sein Gedicht „Das Monster will Blut“ von 1916, in welchem er verzweifelt-ironisch die „jämmerlichen Söhne dieser Erde“ auffordert, angesichts des Krieges und des überall fließenden Blutes, sich wie Monster und Barbaren doch gleich selbst umzubringen. Im Kapitel über die faschistischen Diktaturen findet sich das Gedicht „Anti-Anne Frank“ von António Gedeão (1906 – 1997), das von einem schmutzigen, geschlagenes, getretenen, beschimpften, wütenden, blassen, bespuckten Kind handelt, das bis in den Tod hinrin hasst und kein Tagebuch geschrieben hat und nicht die Liebe eines mitleidigen Verlegers gefunden hat und nicht Anne Frank heißt und deswegen in seiner größten Not doch Glück hat. David Mourão (1927–1996) erinnert mit seinem Gedicht „Verlassenheit oder Fado Peniche“ daran, dass sich auf der wunderbaren Halbinsel Peniche während der Salazar-Diktatur in der dortigen, über dem Meer gelegenen Festung ein Gefängnis für politische Gefangene befand. Oder Luís Veiga Leitão (1912-1987), der eindrücklich beschreibt, wie er in seiner Zelle mit einem verbotenen Bleistift ein Fahrrad an die Wand malt und sich damit radelnd selbst durchmisst und über sich hinaus reist.
    Gerne würde man mehr erfahren und mehr lesen von Ilse Losa (1913-2006)³ einer Schriftstellerin deutscher Herkunft und jüdischer Abstammung, die das Tagebuch der Anne Frank, aber auch Peter Härtling oder Anna Seghers und andere ins Portugiesische übersetzt hat. Sie ist in der Anthologie vertreten mit dem Prosagedicht „1. September 1939“, in dem die zumindest damalige Entfernung Portugals vom Rest Europas exemplarisch dargestellt wird: Während in Portugal „immense Ruhe“ herrscht und sich kein Blatt regt und der Tag wie alle anderen beschaulich zu Ende geht, kommt der Gärtner und ruft: „Krieg! Die Deutschen sind in Polen einmarschiert. Der Krieg hat begonnen!“
    Armando Silva Carvalho (1938 – 2017) hat in seinem Gedicht „Politik und Poesie“, das vermutlich aus den frühen 80igern stammt, deren Verhältnis in Portugal ausdrücklich zum Gegenstand gemacht: Am ersten Mai ging in diesem „prosaversessenen Land“ wer wollte auf die Straße, „um sein Gedicht zu schreiben“. Was die Menschen auf die Straße trieb ist das Gedicht, „ihr Atmen war ein langes, langes Gedicht.“ Das Gedicht steht für Phantasie oder aber Hirngespinste, während die Prosa die – politische – Wirklichkeit repräsentiert.
    Der diesjährige Preisträger des Prémio Camões, Manuel Alegre (geb. 1936) ist in der Anthologie mit drei Gedichten vertreten, (über Rosa Luxemburg und Berlin, über den Kolonialkrieg in Angola, wo der Autor Soldat war, und über das finanzielle „Rettungsprogramm“ der EU für Portugal. (Manuel Alegre ist allerdings in den genannten früheren Anthologien portugiesischer Lyrik schon vertreten.)
    Jorge de Sousa Braga (geb. 1957) führt in dem Gedicht „Portugal“ sein widersprüchliches Verhältnis zum Land und zur immer wieder neu erzählten Historie aus. Auf der einen Seite glaubt er, dass von dieser erzählten Geschichte alles „erstunken und erlogen“ und der „Infant Dom Henrique eine Erfindung von Walt Disney“ sei, andererseits hat er ein ironisch gebrochenes Verhältnis zu Portugal, ist er „bis über beide Ohren verliebt“ und „möchte dich [Portugal] leidenschaftlich gern küssen – auf den Mund“.
    Schließlich soll die Leistung aller beteiligten Übersetzer hervorgehoben werden. Der Leser erfährt nicht nur, wie z.B. Kurt Schwitters Gedicht „Eisenbahn“ und die Zeile „Schischischischischen“ kongenial ins Portugiesische übertragen werden kann (von João Barrento, nämlich in „O comboio a apipipitar“), sondern kann feststellen, dass da, wo es nur irgend geht, Reime beibehalten (z.B. bei dem Gedicht von Werner Bukofzer „Sommerkorso 1945“, portugiesisch von Aires Graça) und Redewendungen oder Sprachbilder „hinübergerettet“ sind, z.B. „es wurde Fraktur geredet“ in Enzensbergers „Früher“ in: „Falava-se com muitos esses e erres.“ (übersetzt von Vera San Payo de Lemos).

Die Anthologie ist eine wahre Fundgrube für alle, die sich für portugiesische Lyrik interessieren, auch dann, wenn man mit den inhaltlichen Aussagen der Gedichte (deutschen wie portugiesischen) nicht immer übereinstimmen muss. Schade ist es deswegen, dass das Buch nicht im allgemeinen Buchhandel erhältlich ist.
 
 
©Ulrich Schäfer-Newiger 2017
 

¹ Joachim Sartorius: Niemals eine Atempause, Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert, Köln 2014, vgl. z.B. die Besprechung in der WELT vom 20.11.2014.
² Und auch die andere Hälfte, die etwa in Meyer-Clasons  ‚Portugiesische Lyrik des 20. Jahrhunderts‘ von 1993 oder in der von dem Ehepaar Sternal herausgegebenen zweisprachigen Sammlung „Poemas Portugueses“ aufgenommen ist, oder die bei Hanser 1997 erschienenen ausgewählten Gedichte von Eugénio de Andrade mit dem Titel „Stilleben mit Früchten“ und schließlich das einzige dünne Bändchen von Gedichten von Sophia (vergl. Rezension vom Autor), all dies ist bestenfalls nur noch über Antiquariate beziehbar. Also dürften auch die in diesen Ausgaben versammelten Autoren in Deutschland praktisch unbekannt sein. Nur der Gedichtband „Über die Liebe und das Meer“ von José Saramago aus dem Jahre 2011 und die Sammlung von Gedichten portugiesischer Schriftstellerinnen, 2010 herausgegeben von Elfriede Engelmayer, dürften noch im Buchhandel erhältlich sein.
³ Eine erste Annäherung ist vielleicht über https://de.wikipedia.org/wiki/Ilse_Losa möglich.
 

ÀS VEZES SÃO PRECISAS RIMAS DESTAS / MANCHMAL BRAUCHT MAN SOLCHE REIME. Hrsg.: Goethe Institut Lissabon, Verlag Tintha da China, Lissabon, 2017. 524 Seiten. 24,00 Euro.

in Deutschland zu beziehen über die Buchhandlung Cardabela in Mainz; http://www.cardabela.de/
 
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