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Aristoteles: Poetik

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Rembrandt: Aristoteles vor der Büste des Homer


Aristoteles:


Poetik




1. Von der Dichtkunst selbst


Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von den anderen Dingen, die zu demselben Thema gehören, wollen wir hier handeln, indem wir der Sache gemäß zuerst das untersuchen, was das erste ist. Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie - größtenteils - das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen. Denn wie manche mit Farben und mit Formen, indem sie Ähnlichkeiten herstellen, vielerlei nachahmen - die einen auf Grund von Kunstregeln, die anderen durch Übung - und andere mit ihrer Stimme, ebenso verhält es sich auch bei den genannten Künsten: sie alle bewerkstelligen die Nachahmung mit Hilfe bestimmter Mittel, nämlich mit Hilfe des Rhythmus und der Sprache und der Melodie, und zwar verwenden sie diese Mittel teils einzeln, teils zugleich. Zum Beispiel verwenden das Flöten- und Zitherspiel- sowie andere Künste, welche dieselbe Wirkung haben, etwa das Spiel der Syrinx - nur Melodie und Rhythmus, die Tanzkunst allein den Rhythmus ohne Melodie; denn auch die Tänzer ahmen mit Hilfe der Rhythmen, die die Tanzfiguren durchdringen, Charaktere, Leiden und Handlungen nach. Diejenige Kunst, die allein die Sprache, in Prosa oder in Versen - Versen, indem sie entweder mehrere Maße miteinander vermischt oder sich mit einem einzigen Maß begnügt -, verwendet, hat bis jetzt keine eigene Bezeichnung erhalten. Denn wir können keine Bezeichnung angeben, die folgendes umgreift: die Mimen des Sophron und Xenarchos, die sokratischen Dialoge sowie - wenn jemand mit diesen Mitteln die Nachahmung bewerkstelligen will - die jambischen Trimeter oder elegischen Distichen oder sonstigen Versmaße. Allerdings verknüpft eine verbreitete Auffassung das Dichten mit dem Vers, und man nennt die einen Elegien-Dichter, die anderen Epen-Dichter, wobei man sie nicht im Hinblick auf die Nachahmung, sondern pauschal im Hinblick auf den Vers als Dichter bezeichnet. Denn auch, wenn jemand etwas Medizinisches oder Naturwissenschaftliches in Versen darstellt, pflegt man ihn so zu nennen. Homer und Empedokles haben indes außer dem Vers nichts Gemeinsames; daher wäre es richtig, den einen als Dichter zu bezeichnen, den anderen aber eher als Naturforscher denn als Dichter. Umgekehrt muß man jemanden, der Nachahmung bewerkstelligt, selbst wenn er hierbei alle Versmaße miteinander vermischt, wie etwa Chairemon den »Kentauren« als eine aus allen Versmaßen gemischte Rhapsodie gedichtet hat, als Dichter bezeichnen. Diese Dinge lassen sich also auf diese Weise voneinander abgrenzen. Es gibt nun Künste, die alle die oben genannten Mittel verwenden, ich meine den Rhythmus, die Melodie und den Vers, wie z. B. die Dithyramben- und Nomendichtung und die Tragödie und Komödie. Diese Künste unterscheiden sich dadurch, daß sie die genannten Mittel teils von Anfang bis Ende, teils abschnittsweise verwenden. Dies sind die Unterschiede der Künste, die durch die Mittel bedingt sind, mit deren Hilfe die Nachahmung bewerkstelligt wird.


2. Die Nachahmung von Menschen



Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach. Diese sind notwendigerweise entweder gut oder schlecht. Denn die Charaktere fallen fast stets unter eine dieser beiden Kategorien; alle Menschen unterscheiden sich nämlich, was ihren Charakter betrifft, durch Schlechtigkeit und Güte. Demzufolge werden Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder auch ebenso wie wir. So halten es auch die Maler: Polygnot hat schönere Menschen abgebildet, Pauson häßlichere, Dionysios ähnliche. Es ist nun offenkundig, daß von den genannten Arten der Nachahmung jede diese Unterschiede hat und daß sie dadurch je verschieden ist, daß sie auf die beschriebene Weise je verschiedene Gegenstände nachahmt. Denn auch beim Tanz sowie beim Flöten- und Zitherspiel kommen diese Ungleichheiten vor, und ebenso in der Prosa und in gesprochenen Versen. So hat Homer bessere Menschen nachgeahmt, Kleophon uns ähnliche und Hegemon von Thasos, der als erster Parodien dichtete, sowie Nikochares, der Verfasser der »Deilias«, schlechtere. Dasselbe gilt für die Dithyramben und die Nomen; man könnte nämlich ebenso nachahmen, wie Timotheos und Philoxenos die Kyklopen nachgeahmt haben. Auf Grund desselben Unterschiedes weicht auch die Tragödie von der Komödie ab: die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen.


3. Die Nachahmung von Gegenständen


Nun zum dritten Unterscheidungsmerkmal dieser Künste: zur Art und Weise, in der man alle Gegenstände nachahmen kann. Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten - in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen. Die Nachahmung überhaupt läßt also, wie wir zu Anfang sagten, nach diesen drei Gesichtspunkten Unterschiede erkennen: nach den Mitteln, nach den Gegenständen und der Art und Weise. Daher ist Sophokles in der einen Hinsicht ein Nachahmer von derselben Art wie Homer (denn beide ahmen gute Menschen nach), in der anderen Hinsicht wie Aristophanes (denn beide ahmen Handelnde und sich Betätigende nach). Daher werden, wie einige meinen, ihre Werke »Dramen« genannt: sie ahmen ja sich Betätigende (drontes, von dran) nach. Aus eben diesem Grunde beanspruchen die Dorer sowohl die Tragödie als auch die Komödie. Die Komödie wird nämlich von den Megarern beansprucht, von den hiesigen mit der Begründung, sie sei dort zur Zeit der bei ihnen herrschenden Demokratie entstanden, und von den sizilischen, weil von dort der Dichter Epicharmos stammt, der viel früher gelebt hat als Chionides und Magnes. Die Tragödie wiederum wird von einigen Städten in der Peloponnes beansprucht. Die Dorer führen hierbei die Bezeichnung als Beweis an. Denn sie selbst, so sagen sie, nennten die Vororte »komai«, die Athener hingegen »demoi«, und die Komödianten hätten ihren Namen nicht vom Umherschwärmen (komazein), sondern davon, daß sie, als Ehrlose aus der Stadt vertrieben, durch die Vororte gezogen seien. Ferner heiße das Handeln bei ihnen selbst »dran«, bei den Athenern jedoch »prattein«. Soviel über die Zahl und Beschaffenheit der Unterschiede in der Nachahmung überhaupt.


4. Die zwei Ursachen der Dichtkunst


Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren - es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt - als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat. Als Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen. Ursache hiervon ist folgendes: Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z. B. daß diese Gestalt den und den darstelle. (Wenn man indes den dargestellten Gegenstand noch nie erblickt hat, dann bereitet das Werk nicht als Nachahmung Vergnügen, sondern wegen der Ausführung oder der Farbe oder einer anderen derartigen Eigenschaft.) Da nun das Nachahmen unserer Natur gemäß ist, und ebenso die Melodie und der Rhythmus - denn daß die Verse Einheiten der Rhythmen sind, ist offenkundig -, haben die hierfür besonders Begabten von den Anfängen an allmählich Fortschritte gemacht und so aus den Improvisationen die Dichtung hervorgebracht. Die Dichtung hat sich hierbei nach den Charakteren aufgeteilt, die den Autoren eigentümlich waren. Denn die Edleren ahmten gute Handlungen und die von Guten nach, die Gewöhnlicheren jedoch die von Schlechten, wobei sie zuerst Rügelieder dichteten, die anderen hingegen Hymnen und Preislieder. Aus vorhomerischer Zeit können wir von niemandem ein derartiges Gedicht nennen, doch hat es sicherlich viele Dichter gegeben. Von Homer an hingegen ist uns das möglich, wie es z. B. von ihm selbst den »Margites« und Ähnliches gibt. In jenen Rügen kam in angemessener Weise der jambische Vers auf; er wird noch jetzt »Spottvers« (iambeion) genannt, weil sich die Leute in diesem Versmaß zu verspotten (iambizein) pflegten. So dichteten die Alten teils in heroischen, teils in jambischen Versen. Wie nun Homer für das Edle der vorzüglichste Dichter war - denn er hat als einziger nicht nur gut gedichtet, sondern auch dramatische Nachahmungen hervorgebracht -, so hat er auch als erster die Form der Komödie angedeutet, indem er nicht Rügen, sondern das Lächerliche dramatisierte. Denn wie sich die »Ilias« und die »Odyssee« zu den Tragödien verhalten, so verhält sich der »Margites« zu den Komödien. Nachdem die Tragödie und die Komödie aufgekommen waren, bemächtigten sich die Dichter je nach ihrer Eigenart einer der beiden Gattungen, und die einen wurden statt Jambikern Komödiendichter, die anderen statt Epikern Tragiker, weil diese Formen großartiger und angesehener waren als jene. Zu untersuchen, ob die Tragödie hinsichtlich ihrer Elementes bereits einen hinlänglichen Entwicklungsstand erreicht hat oder nicht und hier aber an und für sich und im Hinblick auf die Aufführungen zu befinden, ist ein anderes Problem. Sie hatte ursprünglich aus Improvisationen bestanden (sie selbst und die Komödie: sie selbst von seiten derer, die den Dithyrambos, die Komödie von seiten derer, die die Phallos-Umzüge, wie sie noch jetzt in vielen Städten im Schwange sind, anführten); sie dehnte sich dann allmählich aus, wobei man verbesserte, was bei ihr zum Vorschein kam, und machte viele Veränderungen durch. Ihre Entwicklung hörte auf, sobald sie ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte. Aischylos hat als erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und den Dialog zur Hauptsache gemacht. Sophokles hat den dritten Schauspieler und die Bühnenbilder hinzugefügt. Was ferner die Größe betrifft, so gelangte die Tragödie aus kleinen Geschichten und einer auf Lachen zielenden Redeweise - sie war ja aus dem Satyrischen hervorgegangen - erst spät zu Feierlichkeit, und hinsichtlich des Versmaßes ersetzte der iambische Trimeter den trochäischen Tetrameter. Denn zunächst hatte man den Tetrameter verwendet, weil die Dichtung satyrspielartig war und dem Tanze näher stand; als aber der gesprochene Dialog aufkam, wies die Natur selbst auf das geeignete Versmaß. Denn der Jambus ist unter allen Versen der zum Sprechen geeignetste. Ein Beweis hierfür ist, daß wir in der Konversation des Alltags sehr oft in Jamben reden, iedoch selten in Hexametern und nur, indem wir uns vom üblichen Tonfall entfernen. Die Zahl der Episoden schließlich und alles übrige, womit die Tragödie, wie es heißt, im einzelnen ausgestattet wurde, wollen wir auf sich beruhen lassen; denn es wäre wohl eine umfangreiche Aufgabe, diese Dinge Punkt für Punkt durchzugehen.


5. Komödie und Tragödie


Die Komödie ist, wie wir sagten, Nachahmung von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Häßlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht, wie ja auch die lächerliche Maske häßlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von Schmerz. Die Veränderungen der Tragödie, und durch wen sie bewirkt wurden, sind wohlbekannt. Die Komödie hingegen wurde nicht ernst genommen; daher blieben ihre Anfänge im dunkeln. Denn erst spät bewilligte der Archon einen Komödienchors zuvor waren es Freiwillige. Erst als die Komödie einigermaßen bestimmte Formen angenommen hatte, wurde die Erinnerung an ihre bedeutenderen Dichter bewahrt. Wer die Masken oder die Prologe oder die Zahl der Schauspieler, und was dergleichen mehr ist, aufgebracht hat, ist unbekannt. Der Gedanke, Handlungen zu erfinden, kam ursprünglich aus Sizilien; in Athen begann Krates als erster, die jambische Art aufzugeben und zusammenhängende Handlungen von allgemeiner Bedeutung zu erfinden. Die Epik stimmt mit der Tragödie insoweit überein, als sie Nachahmung guter Menschen in Versform ist; sie unterscheidet sich darin von ihr, daß sie nur ein einziges Versmaß verwendet und aus Bericht besteht. Ferner in der Ausdehnung: die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen; das Epos verfügt über unbeschränkte Zeit und ist also auch in diesem Punkte anders - obwohl man es hierin ursprünglich bei den Tragödien ebenso gehalten hatte wie bei den Epen. Die Teile sind teils bei Epos und Tragödie dieselben, teils Eigentümlichkeiten der Tragödie. Daher vermag, wer eine gute von einer schlechten Tragödie unterscheiden kann, dasselbe auch bei den Epen. Denn was die Epik enthält, ist auch in der Tragödie vorhanden, doch was die Tragödie enthält, ist nicht alles in der Epik vorhanden.


6. Die Tragödie


Von derjenigen Kunst, die in Hexametern nachahmt, und von der Komödie wollen wir später reden; jetzt reden wir von der Tragödie, wobei wir die Bestimmung ihres Wesens aufnehmen, wie sie sich aus dem bisher Gesagten ergibt. Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt. Ich bezeichne die Sprache als anziehend geformt, die Rhythmus und Melodie besitzt; ich meine mit der je verschiedenen Anwendung der formenden Mittel die Tatsache, daß einiges nur mit Hilfe von Versen und anderes wiederum mit Hilfe von Melodien ausgeführt wird. Da handelnde Personen die Nachahmung vollführen, ist notwendigerweise die Inszenierung der erste Teil der Tragödie; dann folgen die Melodik und die Sprache, weil dies die Mittel sind, mit denen die Nachahmung vollführt wird. Ich verstehe unter Sprache die im Vers zusammengefügten Wörter und unter Melodik das, was seine Wirkung ganz und gar im Sinnlichen entfaltet. Nun geht es um Nachahmung von Handlung, und es wird von Handelnden gehandelt, die notwendigerweise wegen ihres Charakters und ihrer Erkenntnisfähigkeit eine bestimmte Beschaffenheit haben. (Es sind ja diese Gegebenheiten, auf Grund deren wir auch den Handlungen eine bestimmte Beschaffenheit zuschreiben, und infolge der Handlungen haben alle Menschen Glück oder Unglück.) Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos. Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse, unter Charakteren das, im Hinblick worauf wir den Handelnden eine bestimmte Beschaffenheit zuschreiben, unter Erkenntnisfähigkeit das, womit sie in ihren Reden etwas darlegen oder auch ein Urteil abgeben. Demzufolge enthält jede Tragödie notwendigerweise sechs Teile, die sie so oder so beschaffen sein lassen. Diese Teile sind: Mythos, Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik. Die Mittel, mit denen nachgeahmt wird, sind zwei; die Art, wie nachgeahmt wird, ist eine; die Gegenstände, die nachgeahmt werden, sind drei; und darüberhinaus gibt es nichts. Nicht wenige bedienen sich dieser Teile, um gewissermaßen selbständige Arten daraus zu machen; immerhin besteht jedes Stück in gleicher Weise aus Inszenierung, Charakteren, Mythos, Sprache, Melodik und Erkenntnisfähigkeit. Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit. (Auch Glück und Unglück beruhen auf Handlung, und das Lebensziel ist eine Art Handlung, keine bestimmte Beschaffenheit. Die Menschen haben wegen ihres Charakters eine bestimmte Beschaffenheit, und infolge ihrer Handlungen sind sie glücklich oder nicht. Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen willen beziehen sie Charaktere ein. Daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel aber ist das Wichtigste von allem. Ferner könnte ohne Handlung keine Tragödie zustandekommen, wohl aber ohne Charaktere. Denn die Tragödien der Neueren sind größtenteils ohne Charaktere, und überhaupt ist dies bei vielen Dichtern der Fall. Ebenso verhält sich unter den Malern Zeuxis zu Polygnot; Polygnot war nämlich ein guter Maler von Charakteren, die Gemälde von Zeuxis hingegen zeigen keine Charaktere. Ferner, wenn jemand Reden aneinanderreihen wollte, die Charaktere darstellen und sprachlich wie gedanklich gut gelungen sind, dann wird er gleichwohl die der Tragödie eigentümliche Wirkung nicht zustandebringen. Dies ist vielmehr weit eher bei einer Tragödie der Fall, die in der genannten Hinsicht Schwächen zeigt, jedoch einen Mythos, d. h. eine Zusammenfügung von Geschehnissen, enthält. Außerdem sind die Dinge, mit denen die Tragödie die Zuschauer am meisten ergreift, Bestandteile des Mythos, nämlich die Peripetien und die Wiedererkennungen. Ein weiterer Beweis ist, daß Anfänger in der Dichtung eher imstande sind, in der Sprache und den Charakteren Treffendes zustandezubringen, als die Geschehnisse zusammenzufügen. Dies ist auch bei den ersten Dichtern fast ausnahmslos der Fall. Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos. An zweiter Stelle stehen die Charaktere. Ähnlich verhält es sich ja auch bei der Malerei. Denn wenn jemand blindlings Farben aufträgt, und seien sie noch so schön, dann vermag er nicht ebenso zu gefallen, wie wenn er eine klare Umrißzeichnung herstellt. Die Tragödie ist Nachahmung von Handlung und hauptsächlich durch diese auch Nachahmung von Handelnden. Das dritte ist die Erkenntnisfähigkeit, d. h. das Vermögen, das Sachgemäße und das Angemessene auszusprechen, was bei den Reden das Ziel der Staatskunst und der Rhetorik ist. Denn die Alten ließen die Personen im Sinne der Staatskunst reden, die Jetzigen lassen sie rhetorisch reden. Der Charakter ist das, was die Neigungen und deren Beschaffenheit zeigt. Daher lassen diejenigen Reden keinen Charakter erkennen, in denen überhaupt nicht deutlich wird, wozu der Redende neigt oder was er ablehnt. Die Erkenntnisfähigkeit zeigt sich, wenn die Personen darlegen, daß etwas sei oder nicht sei, oder wenn sie allgemeine Urteile abgeben. Das vierte ist die Sprache. Ich verstehe unter Sprache, wie oben gesagt, die Verständigung durch Worte. Sie dient dem gleichen Zweck, ob es sich nun um Verse oder um Prosa handelt. Von den restlichen Teilen trägt die Melodik am meisten zur anziehenden Formung bei. Die Inszenierung vermag zwar die Zuschauer zu ergreifen; sie ist jedoch das Kunstloseste und hat am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun. Denn die Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande. Außerdem ist für die Verwirklichung der Inszenierung die Kunst des Kostümbildners wichtiger als die der Dichter.


7. Die Teile der Tragödie


Nachdem wir diese Dinge bestimmt haben, wollen wir nunmehr darlegen, welche Beschaffenheit die Zusammenfügung der Geschehnisse haben muß, da diese ja der erste und wichtigste Teil der Tragödie ist. Wir haben festgestellt, daß die Tragödie die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung ist, die eine bestimmte Größe hat; es gibt ja auch etwas Ganzes ohne nennenswerte Größe. Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht. Demzufolge dürfen Handlungen, wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an die genannten Grundsätze halten. Ferner ist das Schöne bei einem Lebewesen und bei jedem Gegenstand, der aus etwas zusammengesetzt ist, nicht nur dadurch bedingt, daß die Teile in bestimmter Weise angeordnet sind; es muß vielmehr auch eine bestimmte Größe haben. Das Schöne beruht nämlich auf der Größe und der Anordnung. Deshalb kann weder ein ganz kleines Lebewesen schön sein (die Anschauung verwirrt sich nämlich, wenn ihr Gegenstand einer nicht mehr wahrnehmbaren Größe nahekommt) noch ein ganz großes (die Anschauung kommt nämlich nicht auf einmal zustande, vielmehr entweicht den Anschauenden die Einheit und die Ganzheit aus der Anschauung, wie wenn ein Lebewesen eine Größe von zehntausend Stadien hätte). Demzufolge müssen, wie bei Gegenständen und Lebewesen eine bestimmte Größe erforderlich ist und diese übersichtlich sein soll, so auch die Handlungen eine bestimmte Ausdehnung haben, und zwar eine Ausdehnung, die sich dem Gedächtnis leicht einprägt. Die Begrenzung der Ausdehnung ist nicht Sache der Kunst, soweit sie auf die Aufführungen und den äußeren Eindruck Rücksicht nimmt. Wenn nämlich hundert Tragödien miteinander in Wettkampf treten müßten, dann würde deren Ausdehnung gewiß nach der Uhr bemessen. Für die Begrenzung, die der Natur der Sache folgt, gilt, daß eine Handlung, was ihre Größe betrifft, desto schöner ist, je größer sie ist, vorausgesetzt, daß sie faßlich bleibt. Um eine allgemeine Regel aufzustellen: die Größe, die erforderlich ist, mit Hilfe der nach der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit aufeinander folgenden Ereignisse einen Umschlag vom Unglück ins Glück oder vom Glück ins Unglück herbeizuführen, diese Größe hat die richtige Begrenzung.


8. Struktur eines Stückes


Die Fabel des Stücks ist nicht schon dann - wie einige meinen - eine Einheit, wenn sie sich um einen einzigen Helden dreht. Denn diesem einen stößt unendlich vieles zu, woraus keinerlei Einheit hervorgeht. So führt der eine auch vielerlei Handlungen aus, ohne daß sich daraus eine einheitliche Handlung ergibt. Daher haben offenbar alle die Dichter ihre Sache verkehrt gemacht, die eine »Herakleis«, eine »Theseis« und derlei Werke gedichtet haben. Sie glaubten nämlich, daß, weil Herakles eine Person sei, schon deshalb auch die Fabel notwendigerweise eine Einheit sei. Offenbar hat Homer, wie er sich auch sonst überlegen zeigt, auch in diesem Punkte das Richtige erkannt, sei es durch Kunstverstand oder durch seine natürliche Begabung. Denn als er die »Odyssee« dichtete, da nahm er nicht alles auf, was sich mit dem Helden abgespielt hatte, z. B. nicht, daß dieser auf dem Parnaß verwundet worden war oder daß er sich bei der Aushebung wahnsinnig gestellt hatte (es war ja durchaus nicht notwendig oder wahrscheinlich, daß, wenn das eine geschah, auch das andere geschähe) - vielmehr fügte er die »Odyssee« um eine Handlung in dem von uns gemeinten Sinne zusammen, und ähnlich auch die »Ilias«. Demnach muß, wie in den anderen nachahmenden Künsten die Einheit der Nachahmung auf der Einheit des Gegenstandes beruht, auch die Fabel, da sie Nachahmung von Handlung ist, die Nachahmung einer einzigen, und zwar einer ganzen Handlung sein. Ferner müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, daß sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen.


9. Aufgabe des Dichters


Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt - man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse -; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut - eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl sie den Personen Eigennamen gibt. Das Besondere besteht in Fragen wie: was hat Alkibiades getan oder was ist ihm zugestoßen. Bei der Komödie hat sich das schon deutlich herausgestellt. Denn ihre Dichter fügen die Fabel nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit zusammen und geben den Personen erst dann irgendwelche Namen, d. h. sie gehen nicht so vor wie die Jambendichter, deren Dichtung um Individuen kreist. Bei der Tragödie halten sich die Dichter an die Namen von Personen, die wirklich gelebt haben. Der Grund ist, daß das Mögliche auch glaubwürdig ist; nun glauben wir von dem, was nicht wirklich geschehen ist, nicht ohne weiteres, daß es möglich sei, während im Falle des wirklich Geschehenen offenkundig ist, daß es möglich ist - es wäre ja nicht geschehen, wenn es unmöglich wäre. Immerhin verhält es sich auch bei den Tragödien so, daß in einigen nur ein oder zwei Namen zu den bekannten gehören, während die übrigen erfunden sind, in anderen sogar kein einziger Name bekannt ist, wie im »Antheus« des Agathon. In diesem Stück sind nämlich die Namen in derselben Weise frei erfunden wie die Geschehnisse, und es bereitet gleichwohl Vergnügen. Demzufolge muß man nicht unbedingt bestrebt sein, sich an die überlieferten Stoffe, auf denen die Tragödien beruhen, zu halten. Ein solches Bestreben wäre ja auch lächerlich, da das Bekannte nur wenigen bekannt ist und gleichwohl allen Vergnügen bereitet. Hieraus ergibt sich, daß sich die Tätigkeit des Dichters mehr auf die Fabeln erstreckt als auf die Verse: er ist ja im Hinblick auf die Nachahmung Dichter, und das, was er nachahmt, sind Handlungen. Er ist also, auch wenn er wirklich Geschehenes dichterisch behandelt, um nichts weniger Dichter. Denn nichts hindert, daß von dem wirklich Geschehenen manches so beschaffen ist, daß es nach der Wahrscheinlichkeit geschehen könnte, und im Hinblick auf diese Beschaffenheit ist er Dichter derartiger Geschehnisse. Unter den einfachen Fabeln und Handlungen sind die episodischen die schlechtesten. Ich bezeichne die Fabel als episodisch, in der die Episoden weder nach der Wahrscheinlichkeit noch nach der Notwendigkeit aufeinanderfolgen. Solche Handlungen werden von den schlechten Dichtern aus eigenem Unvermögen gedichtet, von den guten aber durch Anforderungen der Schauspieler. Denn wenn sie Deklamationen dichten und die Fabel über ihre Wirkungsmöglichkeiten hinaus in die Länge ziehen, dann sind sie oft gezwungen, den Zusammenhang zu zerreißen. Die Nachahmung hat nicht nur eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand, sondern auch Schaudererregendes und Jammervolles. Diese Wirkungen kommen vor allem dann zustande, wenn die Ereignisse wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen. So haben sie nämlich mehr den Charakter des Wunderbaren, als wenn sie in wechselseitiger Unabhängigkeit und durch Zufall vonstatten gehen (denn auch von den zufälligen Ereignissen wirken diejenigen am wunderbarsten, die sich nach einer Absicht vollzogen zu haben scheinen - wie es bei der Mitys-Statue in Argos der Fall war, die den Mörder des Mitys tötete, indem sie auf ihn stürzte, während er sie betrachtete; solche Dinge scheinen sich ja nicht blindlings zu ereignen). Hieraus folgt, daß Fabeln von dieser Art die besseren sind.


10. Fabeln, die Nachahmung der Handlungen


Die Fabeln sind teils einfach, teils kompliziert. Denn die Handlungen, deren Nachahmungen die Fabeln sind, sind schon von sich aus so beschaffen. Ich bezeichne die Handlung als einfach, die in dem angegebenen Sinne sich zusammenhängt und eine Einheit bildet und deren Wende sich ohne Peripetie oder Wiedererkennung vollzieht, und diejenige als kompliziert, deren Wende mit einer Wiedererkennung oder Peripetie oder beidem verbunden ist. Peripetie und Wiedererkennung müssen sich aus der Zusammensetzung der Fabel selbst ergeben, d. h. sie müssen mit Notwendigkeit oder nach der Wahrscheinlichkeit aus den früheren Ereignissen hervorgehen. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob ein Ereignis infolge eines anderen eintritt oder nur nach einem anderen.


11. Die Peripetie


Die Peripetie ist, wie schon gesagt wurde, der Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil, und zwar, wie wir soeben sagten, gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit. So tritt im »Ödipus« jemand auf, um Ödipus zu erfreuen und ihm die Furcht hinsichtlich seiner Mutter zu nehmen, indem er ihm mitteilt, wer er sei, und er erreicht damit das Gegenteil. Und im »Lynkeus« wird der eine abgeführt, um zu sterben, während der andere - Danaos - ihn begleitet, um ihn zu töten; doch die Ereignisse führen dazu, daß dieser stirbt und jener gerettet wird. Die Wiedererkennung ist, wie schon die Bezeichnung andeutet, ein Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, mit der Folge, daß Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu Glück oder Unglück bestimmt sind. Am besten ist die Wiedererkennung, wenn sie zugleich mit der Peripetie eintritt, wie es bei der im »Ödipus« der Fall ist. Es gibt auch andere Arten der Wiedererkennung, z. B. von leblosen Gegenständen, und zwar von beliebigen. Die Wiedererkennung kann sich auch darauf beziehen, ob jemand etwas getan hat oder nicht getan hat. Doch die zuerst genannte Wiedererkennung ist diejenige, die am besten zur Fabel und zur Handlung paßt. Denn eine solche Wiedererkennung und Peripetie bewirkt Jammer oder Schaudern, und es wurde ja vorausgesetzt, daß die Tragödie Nachahmung von Handlungen mit diesen Wirkungen sei. Außer- dem ergibt sich gerade aus solchen Wiedererkennungen das Unglück und das Glück. Da die Wiedererkennung Wiedererkennung von Personen ist, bezieht sie sich bald nur auf die eine Person im Verhältnis zu anderen (wenn nämlich offenkundig ist, wer die eine Person ist), bald müssen beide Personen sich gegenseitig wiedererkennen - wie z. B. Iphigenie auf Grund der Entsendung des Briefes von Orestes wiedererkannt wird, während für Iphigenie im Verhältnis zu Orestes eine andere Wiedererkennung erforderlich ist. Dies sind zwei Teile der Fabel, die Peripetie und die Wiedererkennung; ein dritter ist das schwere Leid. Hiervon sind die Peripetie und die Wiedererkennung bereits behandelt. Das schwere Leid ist ein verderbliches oder schmerzliches Geschehen, wie z. B. Todesfälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und dergleichen mehr.


12. Die Teile der Fabeln


Von den Teilen der Tragödie, die man als deren Formelemente anzusehen hat, haben wir oben gesprochen. Die Teile, die sich aus ihrer Ausdehnung ergeben, d. h. die Abschnitte, in die man sie gliedern kann, sind folgende: Prolog, Episode, Exodos und Chorpartie, die ihrerseits eine Parodos oder ein Stasimon sein kann. Diese Teile sind allen Tragödien gemeinsam, während die Solo-Arie und der Kommos Besonderheiten bestimmter Tragödien sind. Der Prolog ist der ganze Teil der Tragödie vor dem Einzug des Chors, eine Episode ein ganzer Teil der Tragödie zwischen ganzen Chorliedern, die Exodos der ganze Teil der Tragödie nach dem letzten Chorlied. Bei den Chorpartien ist die Parodos der erste ganze Teil, den der Chor vorträgt, das Stasimon ein Chorlied ohne Anapäst und Trochäus, der Kommos ein vom Chor und vom Solosänger gemeinsam gesungenes Klagelied. Von den Teilen der Tragödie, die man als deren Formelemente anzusehen hat, haben wir zuvor gesprochen; die Teile, die sich aus ihrer Ausdehnung ergeben, d. h. die Abschnitte, in die man sie gliedern kann, sind die genannten.


13. Struktur der Fabeln


Was man beim Zusammenfügen der Fabeln erstreben und was man dabei vermeiden muß und was der Tragödie zu ihrer Wirkung verhilft, das soll nunmehr, im Anschluß an das bisher Gesagte, dargetan werden. Da nun die Zusammensetzung einer möglichst guten Tragödie nicht einfach, sondern kompliziert sein und da sie hierbei Schaudererregendes und Jammervolles nachahmen soll (dies ist ja die Eigentümlichkeit dieser Art von Nachahmung), ist folgendes klar: 1. Man darf nicht zeigen, wie makellose Männer einen Umschlag vom Glück ins Unglück erleben; dies ist nämlich weder schaudererregend noch jammervoll, sondern abscheulich. 2. Man darf auch nicht zeigen, wie Schufte einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben; dies ist nämlich die untragischste aller Möglichkeiten, weil sie keine der erforderlichen Qualitäten hat, sie ist weder menschenfreundlich noch jammervoll noch schaudererregend. 3. Andererseits darf man auch nicht zeigen, wie der ganz Schlechte einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebt. Eine solche Zusammenfügung enthielte zwar Menschenfreundlichkeit, aber weder Jammer noch Schaudern. Denn das eine stellt sich bei dem ein, der sein Unglück nicht verdient, das andere bei dem, der dem Zuschauer ähnelt, der Jammer bei dem unverdient Leidenden, der Schauder bei dem Ähnlichen. Daher ist dieses Geschehen weder jammervoll noch schaudererregend. So bleibt der Held übrig, der zwischen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers - bei einem von denen, die großes Ansehen und Glück genießen, wie Ödipus und Thyestes und andere hervorragende Männer aus derartigen Geschlechtern. Die gute Fabel muß also eher einfach sein als - wie es einige wollen - zwiefach, und sie darf nicht vom Unglück ins Glück, sondern sie muß vielmehr vom Glück ins Unglück umschlagen, nicht wegen der Gemeinheit, sondern wegen eines großen Fehlers entweder eines Mannes, wie er genannt wurde, oder eines besseren oder schlechteren. Ein Beweis dafür ist, was eingetreten ist. Denn zuerst haben die Dichter beliebige Stoffe abgehandelt. Jetzt aber werden die besten Tragödien über eine kleine Anzahl von Geschlechtern zusammengesetzt, wie z. B. über Alkmeon, Ödipus, Orestes, Meleager, Thyestes und Telephos und wer sonst noch Schreckliches erlitt oder tat. Die im Hinblick auf die Kunst beste Tragödie ist also auf diese Weise zusammengefügt. Daher befinden sich die Tadler des Euripides in demselben Irrtum, wenn sie ihm vorwerfen, daß er sich in seinen Tragödien an den genannten Grundsatz hält, d. h. daß diese meistens unglücklich enden. Denn das ist ja, wie gesagt, richtig. Der beste Beweis ist dieser: bei den dramatischen Wettkämpfen erweisen sich derartige Tragödien als die tragischsten, wenn sie erfolgreich aufgeführt werden, und Euripides erweist sich als der tragischste unter den Dichtern, wenn er auch die anderen Dinge nicht richtig handhabt. Die zweitbeste Tragödie, die von manchen für die beste gehalten wird, ist die mit einer zwiefach zusammengefügten Fabel, wie die »Odyssee«, d. h. in der die Guten und die Schlechten ein entgegengesetztes Ende finden. Sie gilt als die beste, weil sie der Schwäche des Publikums entgegenkommt. Denn die Dichter richten sich nach den Zuschauern und lassen sich von deren Wünschen leiten. Doch diese Wirkung ist nicht das Vergnügen, auf das die Tragödie zielt; sie ist vielmehr eher der Komödie eigentümlich. Denn dort treten die, die in der Überlieferung die erbittertsten Feinde sind, wie Orestes und Aigisthos, schließlich als Freunde von der Bühne ab, und niemand tötet oder wird getötet.


14. Das Schauderhafte und das Jammervolle


Nun kann das Schauderhafte und Jammervolle durch die Inszenierung, es kann aber auch durch die Zusammenfügung der Geschehnisse selbst bedingt sein, was das Bessere ist und den besseren Dichter zeigt. Denn die Handlung muß so zusammengefügt sein, daß jemand, der nur hört und nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den Vorfällen Schaudern und Jammer empfindet. So ergeht es jemandem, der die Geschichte von Ödipus hört. Diese Wirkungen durch die Inszenierung herbeizuführen, liegt eher außerhalb der Kunst und ist eine Frage des Aufwandes. Und wer gar mit Hilfe der Inszenierung nicht das Schauderhafte, sondern nur noch das Grauenvolle herbeizuführen sucht, der entfernt sich gänzlich von der Tragödie. Denn man darf mit Hilfe der Tragödie nicht jede Art von Vergnügen hervorzurufen suchen, sondern nur die ihr gemäße. Da nun der Dichter das Vergnügen bewirken soll, das durch Nachahmung Jammer und Schaudern hervorruft, ist offensichtlich, daß diese Wirkungen in den Geschehnissen selbst enthalten sein müssen. Wir wollen nunmehr betrachten, welche Ereignisse als furchtbar und welche als bejammernswert erscheinen. Notwendigerweise gehen derartige Handlungen entweder unter einander Nahestehenden oder unter Feinden oder unter Personen vor sich, die keines von beidem sind. Wenn nun ein Feind einem Feinde etwas derartiges antut, dann ruft er keinerlei Jammer hervor, weder wenn er die Tat ausführt noch wenn er sie auszuführen beabsichtigt abgesehen von dem schweren Leid als solchem. Dasselbe gilt für Personen, die einander nicht nahestehen, ohne miteinander verfeindet zu sein. Sooft sich aber das schwere Leid innerhalb von Näheverhältnissen ereignet (z.B.: ein Bruder steht gegen den Bruder oder ein Sohn gegen den Vater oder eine Mutter gegen den Sohn oder ein Sohn gegen die Mutter; der eine tötet den anderen oder er beabsichtigt, ihn zu töten, oder er tut ihm etwas anderes derartiges an) - nach diesen Fällen muß man Ausschau halten. Es ist nun nicht gestattet, die überlieferten Geschichten zu verändern; ich meine z. B., daß Klytaimestra von Orestes getötet werden muß und Eriphyle von Alkmeon. Man muß derartiges selbst erfinden oder das Überlieferte wirkungsvoll verwenden. Was wir unter wirkungsvoll verstehen, wollen wir etwas genauer darlegen. Die Handlung kann sich so vollziehen wie bei den alten Dichtern, d. h. mit Wissen und Einsicht des Handelnden, wie auch Euripides verfährt, wenn er Medea ihre Kinder töten läßt. Ferner kann man handeln, ohne die Furchtbarkeit der Handlung zu erkennen, und erst später Einsicht in das Näheverhältnis erlangen, wie es beim »Ödipus« des Sophokles der Fall ist. Dort spielt sich das Furchtbare außerhalb der Bühnenhandlung ab, in der Tragödie selbst hingegen z. B. beim »Alkmeon« des Astydamas oder bei Telegonos im »Verwundeten Odysseus«. Außerdem gibt es auch eine dritte Möglichkeit: Die Person beabsichtigt aus Unkenntnis, etwas Unheilbares zu tun, erlangt jedoch Einsicht, bevor sie die Tat ausführt. Weitere Möglichkeiten außer den genannten gibt es nicht. Denn notwendigerweise führt man entweder die Tat aus oder nicht, und zwar wissentlich oder nicht wissentlich. Unter diesen Möglichkeiten ist die, daß die Person die Tat wissentlich beabsichtigt und sie dann nicht ausführt, die schlechteste. Denn darin ist zwar etwas Abscheuliches enthalten, jedoch nichts Tragisches; es tritt nämlich kein schweres Leid ein. Daher verfaßt niemand eine derartige Dichtung, es sei denn ausnahmsweise, z. B. in der »Antigone«, wo sich Haimon dem Kreon gegenüber so verhält. An zweiter Stelle steht der Fall, in dem die Person die Tat auch ausführt. Noch besser ist der Fall, daß die Person die Tat ohne Einsicht ausführt und Einsicht erlangt, nachdem sie sie ausgeführt hat. Denn die Tat hat nichts Abscheuliches an sich, und die Wiedererkennung ruft Erschütterung hervor. Das Beste ist die letzte Möglichkeit, z. B.: Im »Kresphontes« beabsichtigt Merope, ihren Sohn zu töten, sie tötet ihn jedoch nicht, sondern erkennt ihn wieder, und in der »Iphigenie« verhält sich die Schwester dem Bruder gegenüber ebenso, und in der »Helle« beabsichtigt der Sohn, die Mutter an die Feinde auszuliefern, und erkennt sie zuvor noch wieder. Aus diesem Grunde befassen sich die Tragödien, wie oben gesagt, nur mit wenigen Geschlechtern. Denn die Dichter gingen auf die Suche, und es gelang ihnen - nicht durch Kunst, sondern zufällig -, in den überlieferten Geschichten von derartigen Möglichkeiten Gebrauch zu machen, und so sind sie denn gezwungen, sich nur noch mit den Geschlechtern zu befassen, denen derartige schwere Fälle von Leid zugestoßen sind. Über die Zusammenfügung der Geschehnisse und darüber, wie die Handlungen beschaffen sein müssen, haben wir jetzt genug gesagt.


15. Die Charaktere


Was die Charaktere betrifft, so muß man auf vier Merkmale bedacht sein. Das erste und wichtigste besteht darin, daß sie tüchtig sein sollen. Eine Person hat einen Charakter, wenn, wie schon gesagt wurde, ihre Worte oder Handlungen bestimmte Neigungen erkennen lassen; ihr Charakter ist tüchtig, wenn ihre Neigungen tüchtig sind. Dies ist bei jeder Art von Menschen möglich. Denn auch eine Frau kann tüchtig sein und ebenso ein Sklave; allerdings ist ja wohl die Frau im allgemeinen unterlegen, und der Sklave vollauf untüchtig. Das zweite Merkmal ist die Angemessenheit. Eine Frau kann nämlich tapfer von Charakter sein, aber es ist nicht angemessen, daß sie in derselben Weise tapfer oder energisch ist wie ein Mann. Das dritte Merkmal ist das Ähnliche. Denn dies ist etwas anderes, als den Charakter so zu zeichnen, daß er - in dem soeben umschriebenen Sinne - tüchtig und angemessen ist. Das vierte Merkmal ist das Gleichmäßige. Und wenn jemand, der nachgeahmt werden soll, ungleichmäßig ist und ein solcher Charakter gegeben ist, dann muß er immerhin auf gleichmäßige Weise ungleichmäßig sein. Ein Beispiel für einen in unnötiger Weise schlechten Charakter ist Menelaos im »Orestes«, eines für einen unpassenden und nicht angemessenen Charakter das Klagelied des Odysseus in der »Skylla« und die Rede der Melanippe, eines für einen ungleichmäßigen Charakter »Iphigenie in Aulis«; denn die bittflehende Iphigenie hat nichts mit der gemein, die sie im weiteren Verlauf des Stückes ist. Man muß auch bei den Charakteren - wie bei der Zusammenfügung der Geschehnisse - stets auf die Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit bedacht sein, d. h. darauf, daß es notwendig oder wahrscheinlich ist, daß eine derartige Person derartiges sagt oder tut, und daß das eine mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit auf das andere folgt. Es ist offenkundig, daß auch die Lösung der Handlung aus der Handlung selbst hervorgehen muß, und nicht - wie in der »Medea« und wie in der »Ilias« die Geschichte von der Abfahrt aus dem Eingriff eines Gottes. Vielmehr darf man den Eingriff eines Gottes nur bei dem verwenden, was außerhalb der Bühnenhandlung liegt, oder was sich vor ihr ereignet hat und was ein Mensch nicht wissen kann, oder was sich nach ihr ereignen wird und was der Vorhersage und Ankündigung bedarf - den Göttern schreiben wir ja die Fähigkeit zu, alles zu überblicken. In den Geschehnissen darf nichts Ungereimtes enthalten sein, allenfalls außerhalb der Tragödie, wie z. B. im »Ödipus« des Sophokles. Da die Tragödie Nachahmung von Menschen ist, die besser sind als wir, muß man ebenso verfahren wie die guten Porträtmaler. Denn auch diese geben die individuellen Züge wieder und bilden sie ähnlich und zugleich schöner ab. So soll auch der Dichter, wenn er jähzornige, leichtsinnige und andere mit derartigen Charakterfehlern behaftete Menschen nachahmt, sie als die, die sie sind, und zugleich als rechtschaffen darstellen. So stellt Homer den Achilleus als Muster der Schroffheit und zugleich als tüchtig dar. Dies muß man beachten, und außerdem all das, was sich aus den mit der Dichtkunst notwendigerweise verknüpften Sinneseindrücken" ergibt. Denn auch im Hinblick auf diese Eindrücke kann man oft danebengreifen. Hiervon ist in den veröffentlichten Schriften hinreichend gehandelt worden.


16. Die Arten der Wiedererkennung


Was die Wiedererkennung ist, wurde schon früher gesagt. Von den Arten der Wiedererkennung hat die erste am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun, und man verwendet sie aus Verlegenheit am häufigsten: die durch Zeichen. Die Zeichen sind zum Teil angeboren, wie »die Lanze, die die Erdgeborenen an sich tragen«, oder wie die Sterne im »Thyestes« des Karkinos; zum Teil sind sie erworben, und zwar bald am Körper, wie Narben, bald als äußerer Besitz, wie Halsbänder und wie in der »Tyro« die durch den Kahn bewirkte Wiedererkennung. Man kann diese Zeichen besser oder schlechter verwenden. Odysseus z. B. wird an seiner Narbe auf bestimmte Weise von der Amme erkannt und auf andere Weise von den Sauhirten. Die Wiedererkennungen, die um eines Beweises willen stattfinden - und alle anderen dieser Art -, sind allerdings kunstloser, die hingegen, die mit einer Peripetie zusammenhängen, wie die in den »Niptra«, besser. Die zweite Art sind die vom Dichter erdachten, und daher sind sie ebenfalls kunstlos. So gibt Orestes in der »Iphigenie« zu erkennen, daß er Orestes sei; denn während Iphigenie auf Grund des Briefes wiedererkannt wird, sagt Orestes von sich aus, was der Dichter will, und nicht, was die Überlieferung gebietet. Daher kommt dieses Verfahren dem soeben erwähnten Mangel ziemlich nahe; die Person hätte ebensogut auch bestimmte Zeichen an sich tragen können. Dasselbe gilt von der »Stimme« des Weberschiffs im »Tereus« des Sophokles. Die dritte Art vollzieht sich auf Grund der Erinnerung, dadurch, daß man bei einem Anblick etwas bemerkt. So im Falle der »Kyprier« des Dikaiogenes: jemand erblickt das Bild und fängt an zu weinen. Ebenso auch in der Erzählung vor Alkinoos: jemand hört dem Zitherspieler zu, erinnert sich und bricht in Tränen aus. Der eine wie der andere wird daraufhin erkannt. Die vierte Art beruht auf einer Schlußfolgerung. So in den »Choephoren«: »Es ist jemand gekommen, der mir ähnelt; mir ähnelt niemand, es sei denn Orestes; also ist Orestes gekommen.« So auch im Falle der Erfindung, die der Sophist Polyidos hinsichtlich der Iphigenie gemacht hat: es sei wahrscheinlich, daß Orestes folgere, er werde, da doch schon seine Schwester geopfert worden sei, ebenfalls geopfert werden. Ferner im »Tydeus« des Theodektes: er kommt in der Absicht, seinen Sohn wiederzufinden, und geht selbst zugrunde. Ferner in den »Phineiden«: sobald die Frauen den Ort erblicken, schließen sie daraus auf ihr Schicksal, nämlich daß ihnen bestimmt sei, dort zu sterben; dort waren sie auch ausgesetzt worden. Es gibt auch eine Art, die auf einem Fehlschluß des Zuschauers beruht. So im »Odysseus Pseudangelos«. Daß er allein den Bogen spannen kann, und sonst niemand, ist vom Dichter erfunden und Voraussetzung, selbst wenn er behauptet, er werde den Bogen erkennen, ohne ihn gesehen zu haben; doch die Annahme, Odysseus werde sich hierdurch zu erkennen geben, ist ein Fehlschluß. Die beste unter allen Wiedererkennungen ist diejenige, die sich aus den Geschehnissen selbst ergibt, indem die Überraschung aus Wahrscheinlichem hervorgeht. So ist es im »Ödipus« des Sophokles und in der »Iphigenie«; denn es ist wahrscheinlich, daß Iphigenie einen Brief zu übergeben wünscht. Denn derartige Wiedererkennungen kommen als einzige ohne die erfundenen Zeichen, wie Halsbänder, aus. Die zweitbesten Wiedererkennungen sind diejenigen, die sich aus einer Schlußfolgerung ergeben.


17. Das Handlungsgefüge


Man muß die Handlungen zusammenfügen und sprachlich ausarbeiten, indem man sie sich nach Möglichkeit vor Augen stellt. Denn wenn man sie so mit größter Deutlichkeit erblickt, als ob man bei den Ereignissen, wie sie sich vollziehen, selbst zugegen wäre, dann findet man das Passende und übersieht am wenigsten das dem Passenden Widersprechende. Als Beweis hierfür kann der Vorwurf dienen, den man dem Karkinos gemacht hat. Denn sein Amphiaraos trat aus dem Heiligtum hervor - was jemandem, der das Stück nicht sah, verborgen geblieben wäre -, und so fiel das Stück auf der Bühne durch, da die Zuschauer diesen Fehler übelnahmen. Außerdem soll man sich die Gesten der Personen möglichst lebhaft vorstellen. Am überzeugendsten sind bei gleicher Begabung diejenigen, die sich in Leidenschaft versetzt haben, und der selbst Erregte stellt Erregung, der selbst Zürnende Zorn am wahrheitsgetreuesten dar. Daher ist die Dichtkunst Sache von phantasiebegabten oder von leidenschaftlichen Naturen; die einen sind wandlungsfähig, die anderen stark erregbar. Die Stoffe, die überlieferten und die erfundenen, soll man, wenn man sie selbst bearbeitet, zunächst im allgemeinen skizzieren und dann erst szenisch ausarbeiten und zur vollen Länge entwickeln. Was ich unter einem allgemeinen Überblick verstehe, möge das Beispiel der Iphigenie zeigen. Ein Mädchen, das geopfert werden soll, wird auf geheimnisvolle Weise den Opfernden entrückt und in ein anderes Land versetzt, wo es Brauch ist, die Fremden der Göttin zu opfern; sie wird Priesterin dieser Göttin. Einige Zeit später ereignet es sich, daß der Bruder der Priesterin eintrifft. Daß der Gott ihm den Bescheid gegeben hat, dorthin zu gehen, und zu welchem Zweck, liegt außerhalb der Handlung. Er kommt, wird festgenommen, soll geopfert werden und gibt sich zu erkennen (mag man hierbei wie Euripides oder wie Polyidos vorgehen, bei dem der Bruder der Wahrscheinlichkeit gemäß sagt, es müsse offenbar nicht nur die Schwester, sondern auch er selbst geopfert werden), und so kommt es zur Rettung. Daraufhin soll man die Namen einsetzen und das Werk szenisch ausarbeiten. Die Szenen müssen auf die Personen zugeschnitten sein, wie im Falle des Orestes der Wahnsinnsanfall, der zu seiner Festnahme führt, und die Reinigung, die die Rettung bewirkt. In den Dramen sind die Szenen kurz; das Epos hingegen erhält erst durch sie seine Breite. Denn der Stoff der »Odyssee« ist an sich nicht umfangreich. Jemand weilt viele Jahre in der Fremde, wird ständig von Poseidon überwacht und ist ganz allein; bei ihm zu Hause steht es so, daß Freier seinen Besitz verzehren und seinem Sohne nachstellen. Er kehrt nach schweren Bedrängnissen zurück und gibt sich einigen Personen zu erkennen; er fällt über seine Feinde her, bleibt selbst unversehrt und vernichtet die Feinde. Das ist das, was unbedingt zum Stoff gehört; alles übrige ist Ausgestaltung im einzelnen.


18. Verknüpfung und Lösung in der Tragödie


Jede Tragödie besteht aus Verknüpfung und Lösung. Die Verknüpfung umfaßt gewöhnlich die Vorgeschichte und einen Teil der Bühnenhandlung, die Lösung den Rest. Unter Verknüpfung verstehe ich den Abschnitt vom Anfang bis zu dem Teil, der der Wende ins Glück oder ins Unglück unmittelbar vorausgeht, unter Lösung den Abschnitt vom Anfang der Wende bis hin zum Schluß. So umfaßt im »Lynkeus« des Theodektes die Verknüpfung die Vorgeschichte, die Ergreifung des Knaben und weiterhin [die Enthüllung dieser Dinge]; die Lösung reicht vom Mordvorwurf bis zum Ende. Es gibt vier Arten von Tragödien; so groß ist ja auch, wie schon gesagt wurde, die Zahl der Teile. Die eine ist die komplizierte, die ganz und gar aus Peripetie und Wiedererkennung besteht; die zweite die von schwerem Leid erfüllte, wie die Aias- und die Ixion-Tragödien; die dritte ist diejenige, die einen Charakter darstellt, wie die »Phthiotides« und der »Peleus«; an vierter Stelle stehen Stücke wie die »Phorkides«, der »Prometheus« und die Unterweltstragödien. Man soll nach Möglichkeit alle Teiles einzubeziehen versuchen, jedenfalls aber die wichtigsten und meisten, vor allem im Hinblick darauf, wie man jetzt den Dichtern am Zeuge flickt. Denn es hat für jeden Teil vorzügliche Dichter gegeben, und da verlangt man nun, daß ein einzelner Dichter den besonderen Vorzug eines jeden Vorgängers übertrifft. Die Feststellung, ob eine Tragödie mit einer anderen vergleichbar sei oder nicht, kann man auf Grund von keiner Gegebenheit mit demselben Recht treffen wie auf Grund der Handlung. Dies ist der Fall, wenn der Knoten und die Lösung vergleichbar sind. Viele schürzen den Knoten vortrefflich und lösen ihn schlecht wieder auf; man muß jedoch beides miteinander in Übereinstimmung bringen. Man darf auch nicht außer acht lassen, was schon wiederholt gesagt wurde, und darf kein episches Handlungsgefüge zu einer Tragödie machen (unter »episch« verstehe ich Handlungsvielfalt), wie wenn jemand die gesamte Handlung der »Ilias« bearbeiten wollte. Denn im Epos erhalten die Teile wegen der Ausdehnung des Ganzen die passende Größe; in Dramen jedoch ist das Ergebnis in vielem der Erwartung entgegengesetzt. Ein Beweis ist, daß diejenigen, die die gesamte »Iliu Persis« - und nicht nur einen Teil wie Euripides - oder die gesamte »Niobe« - im Gegensatz zu Aischylos - bearbeitet haben, teils durchgefallen sind und teils schlecht abgeschnitten haben; denn auch Agathon ist einzig und allein wegen dieses Fehlers durchgefallen. In den Peripetien jedoch und in den einfachen Ereignisfolgen erreichen die Dichter in erstaunlichem Maße, was sie erstreben, d. h. das Tragische und das Menschenfreundliche. Dies wird dann bewirkt, wenn jemand, der klug, aber zugleich auch schlecht ist, betrogen wird, wie Sisyphos, und wenn jemand, der tapfer und zugleich ungerecht ist, unterliegt. Das entspricht auch - einem Ausspruch des Agathon gemäß der Wahrscheinlichkeit; denn es ist wahrscheinlich, daß sich vieles gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt. Den Chor muß man ebenso einbeziehen wie einen der Schauspieler, und er muß ein Teil des Ganzen sein und sich an der Handlung beteiligen nicht wie bei Euripides, sondern wie bei Sophokles. Bei den übrigen Dichtern vollends gehören die gesungenen Partien um nichts mehr zur jeweiligen Handlung als zu irgendeiner anderen Tragödie; sie lassen Einlagen singen, nachdem Agathon als erster damit angefangen hatte. Doch was macht es für einen Unterschied, ob man nun Einlagen singen läßt oder - nehmen wir einmal diesen Fall an - eine Rede von einem Stück auf ein anderes übertragt, oder gar eine ganze Episode?


19. Die sprachliche Form der Tragödie


Die anderen Teile haben wir nunmehr behandelt; so bleibt übrig, über die sprachliche Form und die Gedankenführung zu reden. Was nun mit der Gedankenführung zusammenhängt, so sei hierfür vorausgesetzt, was sich darüber in den Schriften zur Rhetorik findet; denn sie ist eher ein Teil jener Disziplin. Zur Gedankenführung gehört, was mit Hilfe von Worten zubereitet werden soll. Teile davon sind das Beweisen und Widerlegen und das Hervorrufen von Erregungszuständen, wie von Jammer oder Schaudern oder Zorn und dergleichen mehr, ferner das Verfahren, einem Gegenstande größere oder geringere Bedeutung zu verleihen. Es ist offensichtlich, daß man auch bei den Geschehnissen von denselben Verfahren Gebrauch machen muß, wenn es darum geht, diese Geschehnisse als jammervoll oder furchtbar oder groß oder wahrscheinlich hinzustellen. Allerdings besteht insofern ein Unterschied, als sich diese Wirkungen bei Geschehnissen ohne lenkende Hinweise einstellen müssen, während sie bei allem, was auf Worten beruht, vom Redenden hervorgerufen und durch die Rede erzeugt werden müssen. Denn welche Aufgabe hätte der Redende noch, wenn sich die angemessene Wirkung auch ohne Worte einstellte? Zum Bereich der sprachlichen Form gehören als ein Gegenstand der Untersuchung - die Arten der Aussage (diese zu kennen, ist jedoch Aufgabe der Vortragskunst und dessen, der diese Kunst beherrscht), wie z. B., was ein Befehl ist und was eine Bitte, ein Bericht, eine Drohung, eine Frage und eine Antwort, und was es sonst noch an derartigem gibt. Wegen der Kenntnis oder Unkenntnis in diesen Dingen kann man der Dichtkunst allerdings keinerlei Vorwurf machen, der der Rede wert wäre. Denn was soll man schon für einen Fehler in dem erblicken, was Protagoras rügt: daß der Dichter, in der Meinung, eine Bitte auszusprechen, in Wahrheit eine Weisung gebe, wenn er sage »Singe, Göttin, den Zorn«; denn der Befehl, behauptet Protagoras, etwas zu tun oder zu unterlassen, sei eine Weisung. Deswegen können wir das auf sich beruhen lassen; es ist Gegenstand einer anderen Disziplin, und nicht der Dichtkunst.


20. Die Elemente der Sprache


Die Sprache überhaupt gliedert sich in folgende Elemente: Buchstabe, Silbe, Konjunktion, Artikel, Nomen, Verb, Kasus, Satz. Ein Buchstabe ist ein unteilbarer Laut, nicht jeder beliebige, sondern ein solcher, aus dem sich ein zusammengesetzter Laut bilden läßt. Denn auch Tiere geben unteilbare Laute von sich, von denen ich jedoch keinen als Buchstaben bezeichne. Die Arten der Buchstaben sind der Vokal, der Halbvokal und der Konsonant. Ein Vokal ist, was ohne Gegenwirkung der Zunge oder der Lippen einen hörbaren Laut ergibt, ein Halbvokal ist, was mit einer solchen Gegenwirkung einen hörbaren Laut ergibt, wie das S und das R; ein Konsonant ist, was mit dieser Gegenwirkung für sich keinen Laut ergibt, wohl aber in Verbindung mit Buchstaben hörbar wird, die für sich einen hörbaren Laut ergeben, wie das G und das D. Diese Buchstaben unterscheiden sich je nach der Formung des Mundes und nach der Artikulationsstelle, nach der Aspiration und deren Fehlen, nach Länge und Kürze, ferner nach Höhe, Tiefe und mittlerer Lage. Diese Dinge im einzelnen zu untersuchen, ist Aufgabe metrischer Abhandlungen. Eine Silbe ist ein Laut ohne Bedeutung, zusammengesetzt aus einem Konsonanten und einem Buchstaben, der einen Laut ergibt; denn GR ohne A ist eine Silbe, und ebenso GR mit A, also GRA. Doch auch diese Unterschiede zu untersuchen, ist Sache der Metrik. Eine Konjunktion ist ein Laut ohne Bedeutung, der einen aus mehreren Lauten zusammengesetzten, bedeutungshaften Laut weder verhindert noch herstellt, den man an den Anfang und das Ende sowie in die Mitte eines Satzes stellen kann, jedoch in manchen Fällen dann nicht an den Anfang, wenn der Satz für sich steht, wie z. B. im Falle von men, etoi, de. Oder sie ist ein Laut ohne Bedeutung, der aus mindestens zwei bedeutungshaften Lauten einen einzigen bedeutungshaften Laut herstellt, wie amphi, peri usw. Ein Artikel ist ein Laut ohne Bedeutung, der [den Anfang oder das Ende oder die Gliederung eines Satzes anzeigt]. Ein Nomen ist ein zusammengesetzter, bedeutungshafter Laut, ohne Zeitbestimmung, von dem kein Teil an sich bedeutungshaft ist. Denn in den zwiefachen Nomina verwenden wir den einzelnen Teil nicht so, als ob er auch an und für sich bedeutungshaft wäre; so hat z. B. in Theodoros der Teil doron keine Bedeutung. Ein Verb ist ein zusammengesetzter, bedeutungshafter Laut, mit einer Zeitbestimmung, von dem kein Teil für sich etwas bedeutet, wie im Falle der Nomina. Denn »Mensch« oder »weiß« enthalten keine Zeitbestimmung; bei »er geht« oder »er ist gegangen« hingegen kommt eine Zeitbestimmung hinzu, und zwar einerseits für die Gegenwart, andererseits für die Vergangenheit. Ein Kasus findet sich beim Nomen oder beim Verb. Er bezeichnet entweder Beziehungen wie »dieses« oder »diesem« usw., oder die Einheit oder Vielheit, wie »Menschen« oder »Mensch«, oder Ausdrucksweisen, wie Frage oder Gebot; denn Ausdrücke wie »Ging er?« oder »Geh!« sind Kasus eines Verbs nach den zuletzt genannten Kategorien. Ein Satz ist ein zusammengesetzter, bedeutungshafter Laut, von dem einige Teile an sich etwas bedeuten (allerdings ist nicht jeder Satz aus Verben und Nomina zusammengesetzt; vielmehr kann ein Satz - wie z. B. die Definition des Menschen - auch ohne Verben sein; doch irgendein Teil von ihm ist stets bedeutungshaft), wie z. B. Kleon in dem Satz »Kleon geht«. Ein Satz ist auf zwiefache Weise eine Einheit. Denn entweder bezeichnet er einen einzigen Gegenstand, oder er besteht aus der Verknüpfung von mehreren Teilen. Die »Ilias« z. B. ist durch Verknüpfung eine Einheit, die Definition des Menschen dadurch, daß sie einen Gegenstand bezeichnet.


21. Die Wörter


Die Wörter sind ihrer Art nach teils einfach (als einfach bezeichne ich ein Wort, das nicht aus Bedeutungshaftem zusammengesetzt ist, wie ge), teils zwiefach. Von den zwiefachen Wörtern sind die einen aus einem bedeutungshaften Teil und einem Teil ohne Bedeutung (wobei zu beachten ist, daß diese Teile nicht innerhalb des Wortes eine besondere Bedeutung haben oder nicht haben), die anderen aus bedeutungshaften Teilen zusammengesetzt. Es gibt auch dreifache, vierfache und aus vielen Teilen zusammengesetzte Wörter, wie zahlreiche Ausdrücke der Massalioten: Hermokaikoxanthos. Jedes Wort ist entweder ein üblicher Ausdruck, oder eine Glosse, oder eine Metapher, oder ein Schmuckwort, oder eine Neubildung, oder eine Erweiterung, oder eine Verkürzung, oder eine Abwandlung. Als üblichen Ausdruck bezeichne ich das Wort, das ein jeder selbst gebraucht, als Glosse dasjenige, das andere gebrauchen. Offensichtlich kann also dasselbe Wort sowohl üblicher Ausdruck als auch Glosse sein, aber nicht bei denselben Leuten; denn sigynon ist bei den Kypriern ein üblicher Ausdruck, bei uns eine Glosse. Eine Metapher ist die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf eine andere, oder nach den Regeln der Analogie. Von der Gattung auf die Art, darunter verstehe ich z. B. »Mein Schiff steht still«; das Vor-Anker-Liegen ist nämlich eine Art Stillstehen. Von der Art auf die Gattung: »Wahrhaftig, zehntausend gute Dinge hat Odysseus schon vollbracht«; zehntausend ist nämlich viel, und an Stelle von »viel« wird das Wort hier verwendet. Von einer Art auf die andere, wie z. B.: »Mit dem Erz die Seele abschöpfend«, und »Abschneidend mit dem unverwüstlichen Erzgefäß«; denn hier nennt der Dichter das Abschöpfen ein »Abschneiden«, das Abschneiden hingegen ein »Abschöpfen«; beides sind Arten des Wegnehmens. Unter einer Analogie verstehe ich eine Beziehung, in der sich die zweite Größe zur ersten ähnlich verhält wie die vierte zur dritten. Dann verwendet der Dichter statt der zweiten Größe die vierte oder statt der vierten die zweite; und manchmal fügt man hinzu, auf was sich die Bedeutung bezieht, für die das Wort eingesetzt ist. So verhält sich z. B. eine Schale ähnlich zu Dionysos wie ein Schild zu Ares; der Dichter nennt also die Schale »Schild des Dionysos« und den Schild »Schale des Ares«. Oder das Alter verhält sich zum, Leben, wie der Abend zum Tag; der Dichter nennt also den Abend »Alter des Tages«, oder, wie Empedokles, das Alter »Abend des Lebens« oder Sonnenuntergang des Lebens«. In manchen Fällen fehlt eine der Bezeichnungen, auf denen die Analogie beruht; nichtsdestoweniger verwendet man den analogen Ausdruck. So heißt z. B. das Ausstreuen von Samen »säen; für die Tätigkeit der Sonne hingegen, die ihr Licht ausstreut, gibt es keine spezielle Bezeichnung. Doch verhält sich diese Tätigkeit ähnlich zum Sonnenlicht wie das Säen zum Samen; man hat daher gesagt: »Säend das göttliche Licht«. Man kann diese Art der Metapher auch anders verwenden: man benennt etwas mit einem uneigentlichen Ausdruck und verneint eines der Merkmale, die diesem Ausdruck von Hause aus zukommen, wie wenn man z. B. den Schild als »Becher« bezeichnen wollte, aber nicht »des Ares«, sondern »ohne Wein«. Eine Neubildung ist, was, ohne daß es je von irgend jemandem gebraucht worden wäre, vom Dichter geprägt wird. Denn einige Bezeichnungen scheinen von dieser Art zu sein, wie ernyges für das Geweih und areter für den Priester. Eine Erweiterung oder Verkürzung liegt vor, wenn einerseits ein Wort einen längeren Vokal enthält, als üblich ist, oder wenn eine Silbe eingeschoben ist, und wenn andererseits etwas von einem Wort weggenommen worden ist. Erweiterungen sind z B. poleos für poleos und Peleiadeo für Peleideo; Verkürzungen sind z. B. kri und do und mia ginetai amphoteron ops. Eine Abwandlung liegt vor, wenn man einerseits von dem gewöhnlichen Wort etwas wegläßt und andererseits etwas hinzutut, wie z. B. dexiteron kata mazon, wo dexiteron für dexion steht. Von den Nomina sind die einen männlich, die anderen weiblich und die dritten zwischen beidem. Männlich sind die Nomina, die auf N, R und S sowie auf die Buchstaben enden, die mit Hilfe eines S zusammengesetzt sind (das sind zwei, PS und X); weiblich sind die, die auf die stets langen Vokale enden, d. h. auf E und O, sowie - von den Vokalen, die bald kurz, bald lang sind - die auf A. Demnach ist die Zahl der Laute gleich, auf die männliche und weibliche Nomina enden können (PS und X sind ja zusammengesetzt). Auf einen Konsonanten endet kein Nomen, und auch nicht auf einen kurzen Vokal. Auf I enden nur drei, nämlich meli, kommi, peperi, und auf Y fünf. Die Nomina zwischen Männlich und Weiblich enden auf die genannten Vokale sowie auf N und S.


22. Die vollkommene sprachliche Form


Die vollkommene sprachliche Form ist klar und zugleich nicht banal. Die sprachliche Form ist am klarsten, wenn sie aus lauter üblichen Wörtern besteht; aber dann ist sie banal. Beispiele sind die Dichtungen des Kleophon und des Sthenelos. Die sprachliche Form ist erhaben und vermeidet das Gewöhnliche, wenn sie fremdartige Ausdrücke verwendet. Als fremdartig bezeichne ich die Glosse, die Metapher, die Erweiterung und überhaupt alles, was nicht üblicher Ausdruck ist. Doch wenn jemand nur derartige Wörter verwenden wollte, dann wäre das Ergebnis entweder ein Rätsel oder ein Barbarismus: wenn das Erzeugnis aus Metaphern besteht, ein Rätsel, wenn es aus Glossen besteht, ein Barbarismus. Denn das Wesen des Rätsels besteht darin, unvereinbare Wörter miteinander zu verknüpfen und hiermit gleichwohl etwas wirklich Vorhandenes zu bezeichnen. Dies läßt sich nicht erreichen, wenn man andere Arten von Wörtern zusammenfügt, wohl aber, wenn es Metaphern sind, z. B. »Ich sah einen Mann, der mit Feuer Erz auf einen Mann klebte« und dergleichen mehr. Aus Glossen ergibt sich der Barbarismus. Man muß also die verschiedenen Arten irgendwie mischen. Denn die eine Gruppe bewirkt das Ungewöhnliche und Nicht-Banale, nämlich die Glosse, die Metapher, das Schmuckwort und alle übrigen genannten Arten; der übliche Ausdruck hingegen bewirkt Klarheit. Durchaus nicht wenig tragen sowohl zur Klarheit als auch zur Ungewöhnlichkeit der sprachlichen Form die Erweiterungen und Verkürzungen und Abwandlungen der Wörter bei. Denn dadurch, daß sie anders beschaffen sind als der übliche Ausdruck und vom Gewohnten abweichen, bewirken sie das Ungewöhnliche, dadurch aber, daß sie dem Gewohnten nahestehen, die Klarheit. Daher haben diejenigen unrecht, die eine solche Ausdrucksweise verwerfen und sich über den Dichter lustig machen, wie es der ältere Eukleides getan hat. Der behauptete nämlich, es sei leicht zu dichten, wenn es erlaubt sei, die Worte nach Belieben zu erweitern, und er parodierte den Dichter in eben diesem Sprachgebrauch: Epicharen eidon Marathonade badizonta und uk an geramenos ton ekeinu elleboron. Derlei Erweiterungen derart auffällig zu gebrauchen, ist lächerlich; hierbei maßvoll zu verfahren, ist die Regel, die für alle diese Wortarten gemeinsam gilt. Denn wenn man Metaphern und Glossen und die übrigen Arten unpassend verwendet, dann erreicht man dieselbe Wirkung, wie wenn man sie eigens zu dem Zweck verwendet, Gelächter hervorzurufen. Wie sehr sich hiervon der angemessene Gebrauch unterscheidet, kann man am Epos beobachten, indem man die üblichen Wörter in den Vers einfügt. Wenn man nämlich die Glossen und Metaphern und die übrigen Arten durch die üblichen Wörter ersetzt, dann kann man erkennen, daß wir richtig urteilen. So haben Aischylos und Euripides denselben iambischen Vers verwendet, wobei Euripides nur ein Wort veränderte, indem er einen üblichen, gewohnten Ausdruck durch eine Glosse ersetzte; der eine Vers klingt schön, der andere gewöhnlich. Aischylos hatte nämlich in seinem »Philoktet« geschrieben: phagedainan he mu sarkas esthiei podos; Euripides ersetzte esthiei durch thoinatai. Derselbe Unterschied ergibt sich, wenn man in dem Vers nyn de meon oligos te kai utidanos kai aeikes die üblichen Ausdrücke einsetzt: nyn de m'eon mikros te kai asthenikos kai aeides. Ebenso verhält es sich, wenn man den Vers diphron aeikelion katatheis oligen te trapezan wie folgt verändert: diphron mochtheron katatheis mikrn te trapezan. Ebenso verhalten sich zueinander: eiones booosin und eiones krazusin. Außerdem hat Ariphrades die Tragödiendichter verspottet: sie gebrauchten Ausdrücke, die niemand in der Umgangssprache verwende, wie z. B. domaton apo statt apo domaton, ferner sethen und ego de nin sowie Achilleos pevi statt peri Achilleos und dergleichen mehr. Indes, da alle diese Wendungen nicht zum Üblichen gehören, bewirken sie in der sprachlichen Form das Ungewöhnliche; Ariphrades jedoch hat hiervon nichts gewußt. Es ist wichtig, daß man alle die genannten Arten passend verwendet, auch die zwiefachen Wörter und die Glossen; es ist aber bei weitem das Wichtigste, daß man Metaphern zu finden weiß. Denn dies ist das Einzige, das man nicht von einem anderen erlernen kann, und ein Zeichen von Begabung. Denn gute Metaphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag. Von den Wörtern sind die zwiefachen vor allem dem Dithyrambos angemessen, die Glossen den heroischen und die Metaphern den iambischen Versen. In den heroischen Versen ist allerdings alles verwendbar, was hier behandelt worden ist. Da die jambischen Verse nach Möglichkeit die Umgangssprache nachahmen, sind dort alle die Wörter angemessen, die man auch in der Alltagsrede verwenden würde; dergleichen sind der übliche Ausdruck, die Metapher und das Schmuckwort. Über die Tragödie und die Nachahmung durch Handeln haben wir jetzt genug gesagt.


23. Struktur der Dichtung


Was die erzählende und nur in Versen nachahmende Dichtung angeht, so ist folgendes klar: man muß die Fabeln wie in den Tragödien so zusammenfügen, daß sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen bewirken kann. Außerdem darf die Zusammensetzung nicht der von Geschichtswerken gleichen; denn dort wird notwendigerweise nicht eine einzige Handlung, sondern ein bestimmter Zeitabschnitt dargestellt, d. h. alle Ereignisse, die sich in dieser Zeit mit einer oder mehreren Personen zugetragen haben und die zueinander in einem rein zufälligen Verhältnis stehen. Denn wie die Seeschlacht bei Salamis und die Schlacht der Karthager auf Sizilien um dieselbe Zeit stattfanden, ohne doch auf dasselbe Ziel gerichtet zu sein, so folgt auch in unmittelbar aneinander anschließenden Zeitabschnitten oft genug ein Ereignis auf das andere, ohne daß sich ein einheitliches Ziel daraus ergäbe. Und beinahe die Mehrzahl der Dichter geht in dieser Weise vor. Daher kann Homer, wie wir schon sagten, auch aus folgendem Grunde im Vergleich zu den anderen Epikern als göttlich gelten: er hat sich gehütet, den ganzen Krieg dazu stellen, obwohl dieses Geschehen einen Anfang und ein Ende hatte. Die Handlung wäre dann nämlich allzu umfangreich und somit unübersichtlich geworden, oder sie wäre, wenn sie hinsichtlich der Ausdehnung das richtige Maß gewahrt hätte, wegen ihrer Mannigfaltigkeit überkompliziert ausgefallen. Er hat sich daher einen einzigen Teil vorgenommen und die anderen Ereignisse in zahlreichen Episoden behandelt, wie im Schiffskatalog und in den übrigen Episoden, durch die er seine Dichtung auseinanderzieht. Bei den anderen Epikern hingegen geht es um einen einzigen Helden oder um einen einzigen Zeitabschnitt, oder auch um eine einzige Handlung, die indes aus vielen Teilen besteht, wie etwa beim Dichter der »Kyprien« und dem der »Kleinen Ilias«. Daher kann man aus der »Ilias« und der »Odyssee« nur je eine Tragödie oder höchstens zwei machen, aus den »Kyprien« hingegen viele, und aus der »Kleinen Ilias« mehr als acht, z. B. »Das Waffengericht«, »Philoktet«, »Neoptolemos«, »Eurypylos«, »Der Bettelgang«, »Die Spartanerinnen«, »Die Zerstörung Ilions«, »Die Abfahrt«, »Sinon«, »Die Troerinnen«.


24. Das Epos


Ferner finden sich im Epos notwendigerweise dieselben Arten wie in der Tragödie: ein Epos ist entweder einfach oder kompliziert oder auf Charakterdarstellung bedacht oder von schwerem Leid erfüllt. Ferner sind die Teile dieselben, abgesehen von Melodik und Inszenierung. Das Epos bedarf nämlich auch der Peripetien und Wiedererkennungen und schweren Unglücksfälle: ferner müssen die Gedankenführung und die Sprache von guter Beschaffenheit sein. Homer hat alle diese Elemente als erster und in zulänglicher Weise verwendet. Denn von seinen beiden Dichtungen ist die eine, die »Ilias«, so zusammengefügt, daß sie einfach und von schwerem Leid erfüllt ist, die andere, die »Odyssee«, so, daß sie kompliziert (denn sie ist als Ganzes Wiedererkennung) und auf Charakterdarstellung bedacht ist. Außerdem hat Homer in der Sprache und der Gedankenführung alle anderen übertroffen. Das Epos unterscheidet sich von der Tragödie in der Ausdehnung des Handlungsgefüges und im Versmaß. Die richtige Begrenzung der Ausdehnung ist die angegebene: man muß das Werk von Anfang bis Ende überblicken können. Das dürfte der Fall sein, wenn das Handlungsgefüge weniger groß ist als das der alten Epen und in etwa dem Umfang so vieler Tragödien entspricht, wie in einer und derselben Aufführung gebracht werden. Das Epos hat eine wichtige, ihm eigentümliche Möglichkeit, den Umfang auszudehnen. Denn in der Tragödie kann man nicht mehrere Teile der Handlung, die sich gleichzeitig abspielen, nachahmen, sondern nur den Teil, der auf der Bühne stattfindet und den die Schauspieler darstellen. Im Epos hingegen, das ja Erzählung ist, kann man sehr wohl mehrere Handlungsabschnitte bringen, die sich gleichzeitig vollziehen; diese Abschnitte steigern, wenn sie mit der Haupthandlung zusammenhängen, die Feierlichkeit des Gedichtes. Dieser Vorteil gestattet es dem Epos, Großartigkeit zu erreichen, dem Zuhörer Abwechslung zu verschaffen und verschiedenartige Episoden einzubeziehen. Denn es ist ja die Gleichförmigkeit, die, da sie rasch Sättigung hervorruft, bewirkt, daß die Tragödien durchfallen. Das heroische Versmaß hat sich auf Grund der Erfahrung als angemessen erwiesen. Wenn nämlich jemand in einem anderen oder gar in verschiedenen Versmaßen eine Nachahmung durch Erzählung zustandebringen wollte, dann würde sich das als unpassend erweisen. Denn das heroische Maß ist das erhabenste und feierlichste unter allen Maßen; deshalb ertragt es auch Glossen und Metaphern besonders gut (auch in dieser Hinsicht ist nämlich die Nachahmung durch Erzählung den übrigen Arten der Nachahmung überlegen). Der Jambus und der Tetrameter sind bewegte Maße, der Tetrameter für den Tanz, der Jambus für die Handlung. Es wäre noch sonderbarer, wenn jemand die Versmaße mischen wollte, wie Chairemon. Daher hat niemand ein großes Handlungsgefüge in einem anderen Versmaß verfaßt als dem heroischen; doch, wie gesagt, die Natur selbst lehrt, das hierfür Angemessene zu wählen. Homer verdient in vielen Dingen Lob, insbesondere auch darin, daß er als einziger Dichter nicht verkennt, wie er zu verfahren hat. Der Dichter soll nämlich möglichst wenig in eigener Person reden; denn insoweit ist er nicht Nachahmer. Die anderen Dichter setzen sich fortwährend selbst in Szene und ahmen nur weniges und nur selten nach. Homer dagegen läßt nach kurzer Einleitung sofort einen Mann oder eine Frau oder eine andere Person auftreten; hiervon ist keine ohne Charakter, vielmehr eine jede mit einem Charakter begabt. Man muß zwar auch in den Tragödien dem Wunderbaren Einlaß gewähren. Indes, das Ungereimte, die Hauptquelle des Wunderbaren, paßt besser zum Epos, weil man den Handelnden nicht vor Augen hat. So würden die Begleitumstände der Verfolgung Hektors auf der Bühne lächerlich wirken: die Griechen stehen da und beteiligen sich nicht an der Verfolgung; Achilleus jedoch warnt sie durch Kopfschütteln. Im Epos hingegen bemerkt man solche Dinge nicht. Das Wunderbare bereitet Vergnügen; ein Beweis dafür ist, daß jedermann übertreibt, wenn er eine Geschichte erzählt, in der Annahme, dem Zuhörer hiermit einen Gefallen zu erweisen. Homer hat den übrigen Dichtern auch besonders gut gezeigt, wie man Täuschungen anbringen kann. Es handelt sich hierbei um den Fehlschluß. Wenn nämlich, sobald eine Tatsache A vorliegt oder eintritt, infolgedessen auch eine Tatsache B vorliegt oder eintritt, dann meinen die Leute, daß, wenn B vorliegt, auch A vorliege oder eintrete; dies ist ein Irrtum. Daher muß man, wenn A unwahr ist und B, falls A vorläge, ebenfalls mit Notwendigkeit vorläge oder einsähe, B hinzufügen; denn da unser Verstand weiß, daß B wahr ist, begeht er den Fehlschluß, auch A für wirklich zu halten. Ein Beispiel hierfür findet sich in den »Niptra«. Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist. Die Fabeln dürfen nicht aus ungereimten Teilen zusammengefügt sein, sondern sollen nach Möglichkeit überhaupt nichts Ungereimtes enthalten. Wenn Ungereimtes unvermeidlich ist, dann soll es außerhalb der eigentlichen Handlung liegen, wie im Falle des »Ödipus«, wo der Held nicht weiß, wie Laios umkam. Es darf hingegen nicht innerhalb der Bühnenhandlung stattfinden, wie in der »Elektra« bei den Leuten, die von den pythischen Spielen berichten, oder in den »Mysern« bei dem Manne, der, ohne ein Wort zu sagen, von Tegea nach Mysien gelangt. Es ist daher lächerlich zu behaupten, daß die Handlung ohne solche Dinge zerstört würde; man muß sich nämlich von vorneherein davor hüten, solche Handlungen zusammenzufügen. Wenn man es gleichwohl tut, dann soll die Handlung einigermaßen glaubwürdig wirken; unter dieser Voraussetzung ist auch Sonderbares zulässig. So würden sich die Ungereimtheiten, die sich in der Geschichte von der Aussetzung in der »Odyssee« finden, als unerträglich erweisen, wenn ein schlechter Dichter sich ihrer angenommen hätte. Homer hingegen weiß sie zu verbergen, indem er das Sonderbare durch seine übrigen Vorzüge anziehend macht. Um die Sprache muß man sich vor allem in den Abschnitten bemühen, die ohne Handlung sind und weder Charaktere noch Gedankliches enthalten. Andererseits verdunkelt eine allzu blendende Sprache die Charaktere und die Gedankenführung.


25. Die Probleme und ihre Lösung


Was die Probleme und ihre Lösungen angeht, so dürfte wohl aus der folgenden Betrachtung deutlich werden, wie viele und was für Arten es davon gibt. Da der Dichter ein Nachahmer ist, wie ein Maler oder ein anderer bildender Künstler, muß er von drei Nachahmenswerten, die es gibt, stets eine befolgen: er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, daß sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten. All dies wiederum wird in einer sprachlichen Form ausgedrückt, in der Glossen und Metaphern und viele Veränderungen der Sprache enthalten sind; denn dies gestehen wir ja den Dichtern zu. Außerdem ist die Richtigkeit in der Dichtkunst nicht ebenso beschaffen wie in der Staatskunst, und überhaupt ist sie in der Dichtkunst nicht so beschaffen wie in irgendeiner anderen Disziplin. Im ganzen gibt es in der Dichtkunst zwei Arten von Fehlern: die eine bezieht sich auf die Dichtkunst an sich, die andere auf etwas, das die Dichtkunst nur zufällig berührt. Denn wenn sich ein Dichter etwas richtig vorgestellt hat, um es nachzuahmen, und er es aus Unfähigkeit nicht richtig nachahmt, dann liegt ein Fehler der Dichtkunst selber vor. Wenn er sich jedoch etwas nicht richtig vorgestellt hat, z. B. ein Pferd, das gleichzeitig seine beiden rechten Beine nach vorn wirft, oder wenn er nach Maßgabe einer bestimmten Disziplin, z. B. der Medizin oder einer anderen Wissenschaft, einen Fehler gemacht hat, oder wenn er irgendwelche Dinge dargestellt hat, die unmöglich sind, dann liegt kein Fehler in der Dichtkunst an sich vor. Von diesen Dingen muß man ausgehen, wenn man die Einwände widerlegen will, die in den Problemen enthalten sind. Zunächst die Fälle, die die Dichtkunst selbst betreffen. Wenn ein Dichter Unmögliches darstellt, liegt ein Fehler vor. Doch hat es hiermit gleichwohl seine Richtigkeit, wenn die Dichtung auf diese Weise den ihr eigentümlichen Zweck erreicht (wir haben ja diesen Zweck erwähnt), wenn sie so entweder dem betreffenden Teil selbst oder einem anderen Teil ein stärkeres Moment der Erschütterung verleiht. Ein Beispiel ist die Verfolgung Hektors. Wenn sich jedoch der Zweck ohne Verstoß gegen die jeweils zuständige Disziplin besser oder nicht schlechter hätte erreichen lassen, dann liegt eine Unrichtigkeit vor. Man soll nämlich, wenn möglich, überhaupt keinen Fehler begehen. Ferner: von welcher Art ist der Fehler; bezieht er sich auf die Dichtkunst selbst oder auf etwas anderes, das zufälligen Charakter hat! Der Fehler ist nämlich geringer, wenn jemand nicht wußte, daß die Hirschkuh kein Geweih hat, als wenn er ein Gemälde angefertigt hat, das seinen Gegenstand schlecht nachahmt. Außerdem: wenn der Vorwurf erhoben wird, es sei etwas nicht wirklichkeitsgetreu dargestellt, dann kann man vielleicht einwenden, es sei dargestellt, wie es sein sollte; d. h., wie auch Sophokles erklärt hat, er selbst stelle Menschen dar, wie sie sein sollten, Euripides, wie sie seien, so muß man auch diesen Fall lösen. Wenn aber keines von beiden zutrifft, dann kann man einwenden, man stelle etwas so dar, wie es der allgemeinen Auffassung entspricht, z. B. bei den Geschichten von den Göttern. Denn vielleicht kann man weder, indem man sie als besser hinstellt, noch wirklichkeitsgetreu von ihnen reden, aber möglicherweise so, wie Xenophanes meint: man sagt eben so. Anderes kann man vielleicht nicht als besser hinstellen, aber so wiedergeben, wie es einmal war, z. B. bei der Bewaffnung. »Ihre Lanzen waren senkrecht auf dem Schaft aufgestellt«: so war es damals üblich, wie noch jetzt bei den Illyriern. Was die Frage betrifft, ob eine Rede oder Handlung einer Person rechtschaffen ist oder nicht, so muß man nicht nur auf die Handlung oder Rede selbst achten und prüfen, ob sie gut oder schlecht ist, sondern auch auf den Handelnden oder Redenden, an wen er sich wendet, oder wann oder für wen oder zu welchem Zweck er handelt oder redet, ob er z. B. ein größeres Gut erlangen oder ein größeres Übel vermeiden Andere Probleme muß man im Hinblick auf die sprachliche Form lösen, etwa mit Hilfe von Glossen: ureas men prototz; denn vielleicht meint Homer nicht die Maultiere, sondern die Wächter. Und wenn er von Dolon sagt »der zwar häßlich war von Gestalt«, dann meint er keinen verwachsenen Körper, sondern ein häßliches Gesicht. Denn die Kreter verstehen unter »wohlgestaltet« ein schönes Gesicht. Und wenn es heißt: zoroteron de keraie, dann soll der Wein nicht unvermischt gereicht werden, wie für Säufer, sondern schneller. Anderes ist metaphorisch gemeint, wie z. B: »Alle Götter und Menschen schliefen die ganze Nacht.« Denn an derselben Stelle sagt der Dichter: »Wenn er auf die troische Ebene blickte, (staunte er) über den Schall von Flöte und Syrinx.« »Alle« ist hier demnach metaphorisch statt »viele« verwendet; denn »alles« ist ein Fall von »viel«. Auch »er allein taucht nicht unter« ist metaphorisch; man spricht bei dem am besten Bekannten von »allein«. Manches muß man mit Hilfe der Betonung lösen; so erklärte Hippias von Thasos die Stellen didornen de hoi euchos aresthai und to men hu katapjthetai ombro. Manches löst man mit Hilfe einer Pause, wie bei Empedokles: »So entstanden schnell sterbliche Dinge, die sich zuvor unsterblich gewußt hatten, und, was unvermischt gewesen war zuvor, mischte sich«. Manches mit Hilfe einer Doppeldeutigkeit: »Es ist mehr von der Nacht vergangen«; das »mehr« ist nämlich doppeldeutig. Anderes wieder mit Hilfe des Sprachgebrauchs. So nennt man das aus Wein und Wasser bestehende Mischgetränk schlechtweg »Wein«, und der Dichter sagt »eine Beinschiene aus neugefertigtem Zinn«. Ferner nennt man diejenigen, die das Eisen bearbeiten, »Kupferschmied«, und von Ganymedes wird gesagt, er sei der »Weinschenk« des Zeus, obwohl die Götter keinen Wein trinken. Doch lassen sich diese Beispiele auch als Metaphern erklären. Wenn ein Wort etwas Widersinniges auszudrücken scheint, dann muß man prüfen, wieviele Bedeutungen es an der betreffenden Stelle haben kann. So muß man bei den Worten »dort wurde die eherne Lanze festgehalten« fragen, auf wievielerlei Weise sie dort festgehalten werden konnte, ob so oder so, wie man am ehesten vermuten möchte. Diese Methode ist der entgegengesetzt, von der Glaukon spricht: Einige gehen von einer unsinnigen Voraussetzung aus, und nachdem sie selber diese Voraussetzung gebilligt haben, ziehen sie daraus ihre Schlüsse, und so rügen sie, was der Dichter ihrer Meinung nach gesagt hat, wenn das ihrer vorgefaßten Meinung widerspricht. Das ist im Falle des Ikarios eingetreten. Man glaubt nämlich, er sei Spartaner gewesen; es sei also sonderbar, daß Telemach ihn nicht getroffen habe, als er nach Sparta kam. Doch vielleicht verhält es sich hiermit so, wie die Kephallenier sagen; sie behaupten nämlich, Odysseus habe sich seine Frau von ihnen geholt, und der Vater der Frau heiße Ikadios, nicht Ikarios. Das Problem ist offensichtlich aus einer falschen Voraussetzung erwachsen. Aufs Ganze gesehen muß man das Unmögliche rechtfertigen, indem man entweder auf die Erfordernisse der Dichtung oder auf die Absicht, das Bessere darzustellen, oder auf die allgemeine Meinung zurückgreift. Was die Erfordernisse der Dichtung betrifft, so verdient das Unmögliche, das glaubwürdig ist, den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist. Und wenn es unmöglich sein mag, daß es solche Menschen gibt, wie sie Zeuxis gemalt hat, dann hat er sie eben zum Besseren hin gemalt; das Beispielhafte muß ja die Wirklichkeit übertreffen. Auf das, was die Leute sagen, muß man das Ungereimte zurückführen. Man kann ferner zeigen, daß das Ungereimte bisweilen nicht ungereimt ist; es ist ja wahrscheinlich, daß sich manches auch gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt. Die Stellen, die Widersinniges auszudrücken scheinen, muß man ebenso prüfen, wie man bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen die Gründe des Gegners prüft: ob es sich um dasselbe handelt, und ob sich eine Aussage auf denselben Gegenstand bezieht und ob sie im selben Sinne gilt. Erst dann darf man schließen, daß etwas im Widerspruch zu dem stehe, was entweder der Betreffende ausdrücklich sagt oder was ein vernünftiger Mensch als gegeben voraussetzt. Der Vorwurf der Ungereimtheit und Schlechtigkeit ist berechtigt, wenn ein Dichter ohne zwingenden Grund davon Gebrauch macht, wie Euripides im Falle des Aigeus von Ungereimtem und wie im Falle des Menelaos im »Orestes« von Schlechtigkeit. Die Vorwürfe, die man zu erheben pflegt, lassen sich auf fünf Kategorien zurückführen: daß etwas unmöglich sei oder ungereimt oder sittlich schlecht oder widersinnig oder den Erfordernissen einer Disziplin entgegengesetzt. Die Lösungen lassen sich den angegebenen Gesichtspunkten zwölf an der Zahl - entnehmen.


26. Welche ist die bessere Art der Nachahmung?


Man kann sich die Frage stellen, welche Art der Nachahmung die bessere sei, die epische oder die tragische. Wenn nämlich die weniger vulgäre die bessere und wenn das stets diejenige ist, die sich an das bessere Publikum wendet, dann ist klar, daß diejenige, die alles nachahmt, in hohem Maße vulgär ist Denn die Schauspieler befinden sich, in der Annahme, das Publikum könne nicht folgen, wenn sie nicht von sich aus etwas hinzutun, in ständiger Bewegung - wie die schlechten Flötenspieler, die sich drehen, wenn sie einen fliegenden Diskus nachahmen sollen, und den Chorführer mit sich reißen, wenn sie die »Skylla« vorspielen. Die Tragödie träfe dann ein ähnlicher Vorwurf, wie er den späteren Schauspielern von den früheren gemacht wurde; denn Mynisskos nannte Kallippides einen Affen, weil er allzu sehr übertreibe, und in demselben Ruf hat auch Pindaros gestanden. Wie sich nun diese Schauspieler zu ihren Vorgängern verhalten, so verhielte sich hiernach die tragische Kunst überhaupt zur Epik. Diese wendet sich, so wird behauptet, an ein gebildetes Publikum, das der Gesten nicht bedarf, die tragische Kunst hingegen an ein ungebildetes. Wenn sie nun in dieser Weise vulgär ist, dann ist sie offensichtlich die geringere Kunst. Doch erstens richtet sich dieser Vorwurf nicht gegen die Dichtkunst, sondern gegen die Kunst des Interpreten. Denn Übertreibungen in den Ausdrucksmitteln sind auch beim Vortrag eines Epos möglich, wie im Falle des Sosistratos, und beim Wettsingen, wie im Falle des Mnasitheos von Opus. Man darf auch nicht jede Art von bewegter Darstellung für verwerflich halten, da ja auch der Tanz nicht verwerflich ist, sondern nur die von schlechten Darstellern ausgeführte. Dies hat man auch dem Kallippides vorgeworfen und jetzt anderen: sie seien nicht imstande, edle Frauen darzustellen. Zudem tut die Tragödie auch ohne bewegte Darstellung ihre Wirkung, wie die Epik. Denn schon die bloße Lektüre kann ja zeigen, von welcher Beschaffenheit sie ist. Wenn sie nun in den anderen Punkten überlegen ist, dann kommt es bei ihr auf die schauspielerische Darstellung nicht an: diese braucht überhaupt nicht vorhanden zu sein. Zweitens enthält die Tragödie alles, was auch das Epos enthält - sie kann sogar dessen Versmaß verwenden -, und außerdem als nicht geringen Teil die Melodik, die in sehr auffälliger Weise Vergnügen bereitet. Sie hat ferner das Merkmal der Eindringlichkeit, und zwar sowohl bei der Lektüre als auch bei der Aufführung. Außerdem erreicht sie das Ziel der Nachahmung mit einer geringeren Ausdehnung. Das stärker Zusammengefaßte bereitet nämlich mehr Vergnügen als dasjenige, das sich auf eine lange Zeit hin verteilt - nehmen wir z. B. an, jemand wollte den »Ödipus« des Sophokles zu ebensovielen Versen erweitern, wie sie die »Ilias« enthält. Ferner bildet die Nachahmung in Epen weniger eine Einheit (ein Beweis hierfür ist, daß aus jeder beliebigen epischen Nachahmung mehrere Tragödien hervorgehen können). Die Folge ist: wenn sich die epischen Dichter nur eine einzige Handlung vornehmen wollten, dann nähme sich diese entweder kümmerlich aus, wenn sie gedrängt dargestellt wäre, oder wässerig, wenn sie die dem Epos angemessene Länge erhielte. Ich rede hier von einem Epos, das aus mehreren Handlungen zusammengesetzt ist, wie ja die »Ilias« viele derartige Teile enthält, und auch die »Odyssee«, Teile, deren jeder für sich genommen eine bestimmte Größe hat. Diese Dichtungen sind indes so vollkommen wie möglich zusammengefügt und in höchstem Maße die Nachahmung einer einzigen Handlung. Wenn sich nun die Tragödie in allen diesen Dingen auszeichnet und überdies noch in der von der Kunst angestrebten Wirkung Epos und Tragödie sollen ja nicht ein beliebiges Vergnügen hervorrufen, sondern das erwähnte -, dann ist klar, daß sie dem Epos überlegen ist, da sie ihre Wirkung besser erreicht als jenes. Soviel sei über die Tragödie und das Epos im allgemeinen gesagt, sowie über deren Arten und Teile, wie viele es sind und worin sie sich unterscheiden, und über die Ursachen des Gelingens und Mißlingens und über mögliche Vorwürfe und deren Widerlegung.

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