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Anne Carson: Albertine

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Jan Kuhlbrodt


Zu Anne Carsons Albertine – 59 Liebesübungen + Appendices



Seit mich die Bibliothekarin des Deutschen Literaturinstituts während meines Studiums mit den Worten: „Hier, lesen Sie das mal!“ auf Anne Carsons Glas, Ironie und Gott aufmerksam machte, bin ich, man kann es nicht anders sagen, ein Fan dieser Autorin. Es ist sonderbar einleuchtend, wie sie Literatur und Geistesgeschichte mit Gegenwärtigem verquirlt und an keinem Punkt in einer arroganten bildungsbürgerlichen Pose erstarrt, gleich, ob sie sich Sappho-Texten zuwendet, dem 19. Jahrhundert oder alten japanischen Gedichtformen. Ihre Texte legen immer eine sprudelnde Gegenwärtigkeit frei. Wischen den Staub von den Gedanken, Dingen und Texten.


Das Buch, oder vielleicht eher das Heft, um das es hier geht, ist ein Spin Off in mehrfacher Hinsicht. Geryon, der Protagonist aus Carsons Langgedicht Rot liest Prousts Suche nach der verlorenen Zeit macht sich so seine Gedanken und notiert diese. Das Ganze nennt Geryon Essay:

„Er hat 59 durchnummerierte Absätze. G. nummeriert seine Absätze, denn dann fühlt er sich wie Wittgenstein.“


Natürlich hat der Text den speziellen Geryonblick, der Einiges mit einem Wittgensteinblick gemein hat, und wahrscheinlich auch mit dem Prousts, denn Geryon ist eine Homosexuelle mythologische Figur, die ganz in der Gegenwart verankert ist, soweit man in einer Zeit verankert sein kann.

Und dieser Blick ist, auch in Hinblick auf seine Geschichte, er wurde mit winzigen Flügeln auf dem Rücken geboren, ein erstaunlich analytischer. Geryon zählt, registriert, notiert und vergleicht. Im Ergebnis finden wir eine Reihe von Sätzen, eben durchnummeriert von 1 bis 59. Der letzte Eintrag ist ein Proust-Zitat und lautet:

59.
„Alles ist tatsächlich mindestens zweifach.“ Die Gefangene


Das könnte man als Generalangriff auf das Formvorbild Wittgenstein lesen, dessen Diktum aus dem Tractatus, dass man alles was man sagen könne, klar sagen könne, hier scheinbar unterlaufen wird. Aber es scheint Sachverhalte zu geben, deren Klarheit eben in ihrer Mehr- aber zumindest Doppeldeutigkeit liegt. Das scheint eine Erfahrung zu sein, die sich dem Leser des Proust-Textes während der Lektüre vermittelt. Geryons Hauptaugenmerk liegt auf Albertine.

38.
Diese bildliche Vielgestalt entwickelt sich langsam zu einer plastischen und moralischen Vielgestalt. Albertine ist kein fixes Objekt. Sie ist unbegreiflich. Als Marcel sein Gesicht dem ihren nähert, um sie zu küssen, ist sie nacheinander zehn verschiedene Albertinen.


Der Wittgenstein-Dogmatiker müsste hier natürlich abbrechen. Aber mit einem Schritt beiseite erkennt man beider, Wittgensteins und Geryons, virtuose Literarizität, da ist der Punkt, an dem sie sich treffen. Unbeantwortet bleibt natürlich die Frage, wie viel Carson in Geryon steckt, und wieviel Proust in der Figur Marcel.

44.
Wer wen blufft, ist schwer zu sagen. (Siehe unten über Hamlet.)


Ich habe die Suche nach der verlorenen Zeit bislang nicht komplett gelesen, aber dieses Carson-Heftchen verlangt das auch nicht von mir, wie Wittgensteins Tractatus von mir auch nicht verlangt, die ganze Welt zu kennen, die mit meiner Sprache endet. Und dieses Buch bereitet mir in seiner Prägnanz und Kürze einen geradezu überdimensionalen Spaß. Genres lösen sich auf, und ich habe das Gefühl, dass die Poesie in ihrer archaischen Bedeutung hier zu sich und zur Gegenwart findet.



Anne Carson: Albertine. 59 Liebesübungen + Appendices. Übersetzt von Marie Luise Knott. Berlin (Matthes & Seitz) 2017. 44 Seiten. 14,00 Euro.

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