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Andreas Gryphius: Epitaph, mit Kommentar von Hans Thill

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Andreas Gryphius



Grabschrifft Marianae Gryphiae
seines Bruders Pauli Töchterlein



Gebohren in der Flucht / umbringt mit Schwerd und Brand /
Schir in dem Rauch erstückt, / der Mutter herbes Pfand /
Des Vatern höchste Furcht / die an das Licht gedrungen /
Als die ergrimmte Glutt mein Vaterland verschlungen.
Ich habe dise Welt beschawt und bald gesegnet:
Weil mir auff einen Tag all Angst der Welt begegnet.
Wo ihr die Tage zehlt; so bin ich jung verschwunden /
sehr alt; wofern ihr schätzt / was ich für Angst empfunden!


aus: Andreas Gryphius, Gedichte. Stuttgart, Reclam 1968. UB 8799.


Hans Thill


Die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges hat wohl niemand in so eindrücklichen Versen geschildert wie Andreas Gryphius (1616-1664). Sein Gedicht „Thränen des Vaterlands“ steht für eine ganze Epoche.
Auch das vorliegende Epitaph, in Alexandrinern verfasst, fasziniert als Verskunstwerk in bester antiker Tradition der Epigramme aus der Anthologia Graeca. Gryphius schrieb es auf einen tragischen Fall aus seiner Verwandtschaft. Nach einem Feuer, das im Jahr 1637 das schlesische Freystadt fast völlig zerstörte, kam Gryphius Schwägerin Maria Richter mit ihrer Tochter Mariana nieder, die einige Wochen später starb. Der Brand, eine zivile Katastrophe, hatte die Frau des Halbbruders  Paul Gryphius während der Geburt überrascht und diese unterbrochen. Die Gebärende irrte Stunden durch die brennende Stadt, bis sie von der adligen Dame des Orts aufgenommen wurde.
Der Text, als Trostgedicht für die unglückliche Mutter verfasst, thematisiert die Angst als Maß für ein Leben. Die Relativität von gelebtem Leben und Lebenszeit exemplifiziert sich an einem ergreifenden Schicksal.



aus: Michael Braun (Hrg.) Lyrik-Taschenkalender 2013, Wunderhorn, Heidelberg 2012.

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