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Alexandru Bulucz: Gespräch im Gebirg II

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Gespräch im Gebirg II


Ich lasse dich wieder dorthin vorrücken, von wo aus du
damals nicht weiter vorrücken konntest, wo du damals
standst. Ich frage mich nur, ob die Neigung des Berges
damals dieselbe war wie heute. Ich glaube, du wirst
wieder versuchen gerade … glaube, man sieht nichts auf
dem Weg zum Gipfel. Ich glaube, man muss
bedingungslos nach hinten fallen, wenn man zu früh
aufschaut. So gesehn, ist es nie zu spät. Pünktlichkeit
wäre der Gipfel. Andererseits gibt es nichts als Ungeduld.
Gäbe es sie nicht, gäbe es nichts zu sehen. Du kennst
meine Gedanken, ich lasse dich vorrücken. Genauer, ich
lasse dir den Vortritt. Es ist dein Wunsch, alles noch
einmal und vor mir zu sehen. Sähe ich nur nicht, dass du
nichts siehst. Als würdest du den Berg zum ersten Mal …
bleibst du stehen, wenn du aufschaust, bleiben deine Füße
nebeneinander stehen, während deine Knie sich bis zum
Anschlag strecken wie zwei schlaffe Bögen. Aber es
ermüdet dich nicht, wieder und weiter vorzurücken, nicht
zu staunen. Du, glaube ich, wirst mich morgen fragen,
wie ich heute diese Bergsache gesehen haben würde, und
wirst mich glauben machen, auch du habest sie gesehen,
als hättest du sie heute gesehen … glaube ich nicht mehr.
Ich könnte es dir erzählen. So grausam bin ich nicht, dich
glauben zu lassen, ich sei dir doppelt entgegengekommen.
Dabei stehe ich nur staunend über dich da. Stehe da mit
gespreizten Beinen, das rechte ausgestreckt nach hinten,
vorn das linke, angewinkelt, mein Oberkörper an die
Neigung des Berges gelegt, als würde er aus meinem
linken Fuß, nicht aus meiner Hüfte hervorquellen, als
würden meine Arme, die deine Hüfte stützen, dich vor
dem Sturz schützen … aus meiner Hüfte, nicht aus
meinen Schultern hervorquellen. Wir stehen beide auf der
Geraden des jeweils andern. Einer von uns beiden ist der
Berg, dessen Wurzeln unter die Meere greifen, der andere
alles andere: das Atmen aller Schlafenden dieser Welt,
das / Stöhnen aller Liebenden und das Schreien / aller
Gepeinigten. Alles zugleich / und auf einmal.



Alexandru Bulucz: in Aus sein auf uns (Allitera Verlag -
Lyrikedition 2000), 2016. 64 Seiten. 9,50 Euro.

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