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Alexandru Bulucz: „X-rays are a light that penetrates the intimacy of both the art piece and the artist.“

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay

Alexandru Bulucz

„X-rays are a light that penetrates the intimacy of both the art piece and the artist.“
Arturo Gilardoni


Lyriker sind neuerungssüchtige Käuze, die sich die unerhörtesten Komposita und Neologismen einfallen lassen. Das dürften sich die meisten Lyrikleser erneut gedacht haben, als sie in einem Gedicht von Werner Söllner zum ersten Mal auf das Wort „Knochenmusik“ gestoßen sind. Ich gehöre auch zu jenen, die bis dato nur den Musikknochen und den Schmerz, der von ihm ausgeht, wenn man sich daran stößt, kannten, aber keine Knochenmusik. Umso überraschender war die Erkenntnis, dass es eine, wenn auch nur kleine Geschichte dieses Wortes gibt, die sich über einige Jahrhunderte erstreckt und nicht nur mit Literatur zu tun hat, sondern auch mit Musik und Politik.
Im „XLVIII. Stük vom 21. April 1784“ der „Staats-Relation. Derer neuesten Europäischen Nachrichten und Begebenheiten (Mit Ihro Römisch-Kaiserl. Majestät allergnädigstem ‚Privilegio‘)“ berichtet zum Beispiel der Verfasser von den britischen Unterhauswahlen desselben Jahres und dem erbitterten Wahlkampf, den sich Charles James Fox (1749–1806) mit seinen Gegnern geliefert hat. Die junge Georgiana Cavendish, Duchess of Devonshire (1757–1806) und Prototyp prominenter Unterstützung einer Kandidatur, soll derart überzeugt gewesen sein von Fox, dass sie Metzger mit Küssen zu dessen Wahl bewegen wollte. Daher die Rede von „The Butcher-Kissing Duchess of Devonshire“. Zum öffentlichen Auftritt von Fox sollen sie „mit Markknochen und Beilen“ erschienen sein, um ihre Instrumentalmusik zu produzierten, ihre „Knochenmusik“.
    Nur acht Jahre später veröffentlicht der 26 Jahre alte Johann Baptist Durach (1766–1832) sein „Hellfried und Hulda“ betiteltes „Mährchen aus den gräuelvollen Tagen der Vorwelt“. In dieser zwischen Spätaufklärung und Frühromantik, gotischem Schauerroman und Historie angesiedelten Mischform, die Unterhaltung und Moral sowie Liebe und Abenteuer zusammenführt, wird der Leser in einen kerkerhaften „schaurigen Winkel“ geführt, in dem eine weibliche Gestalt festgehalten wird. Sie wird sich als die Gemahlin des sie eingesperrt haltenden Burgherren Wolfger entpuppen. Dieser Winkel nimmt die Form eines Ossariums an: „Um den Hals hieng ihr an einer goldenen Kette ein Todtenkopf; und gerade über ihr an einer eisernen Kette, festgemacht am durchlöcherten Dache, ein Menschengeripp ohne Schädel. Mit kleineren Kettlein waren die Knochen aneinander gehangen. Vier sich gegenüber stehende offene Löcher gewehrten den Winden Durch- und Gegenzug; und gräßlich war das Beingeklapper bei dem mindesten Gewehe.“ Der Schädel und das Gerippe, durch das das „mindeste Gewehe“ seine „Knochenmusik“ pfeift, gehören Ortwin, mit dem Ildegarte Ehebruch beging, während sich Wolfger als Ritter an den Kreuzzügen beteiligte. Die „Knochenmusik“ dient letzterem als Folterinstrument zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit. Anders als Ortwin konnte Ildegarte der Todesstrafe entkommen, doch wird sie nun gefoltert.
    Wie eine Ergänzung von Durachs „Knochenmusik“-Szene liest sich das Grimmsche, die Kain-und-Abel-Geschichte variierende Märchen „Der singende Knochen“: Ein König verspricht seine Tochter demjenigen, der das im Wald wütende Wildschwein erlegt. Drei Brüder nehmen sich der Aufgabe an. Der jüngste unter ihnen, „unschuldig und dumm“, löst sie. Es auf seinen Schultern tragend – bringt er das erlegte Schwein zu seinen zwei älteren Brüdern, zu deren Opfer er wird. Er wird totgeschlagen und „tief unter der Brücke“ begraben. Der älteste gibt beim König an, er habe das Wildschwein erlegt, und darf die Königstochter zur Frau nehmen. Erst Jahre später erblickt ein Hirte von der Brücke „unten im Sand ein Knöchlein“, das er aufsammelt und zu einem „Mundstück für sein Horn“ verarbeitet. Gerade, da er zum Blasen auf dem Mundstück ansetzen will, fängt es an, „von selbst zu singen“: „Ach! du liebes Hirtelein,/du bläßt auf meinem Knöchelein:/meine Brüder mich erschlugen/unter die Brücke begruben,/um das wilde Schwein/für des Königs Töchterlein.“ Der Hirte bringt das Horn zum König, wo es dasselbe singt. Dieser lässt unter der Brücke graben, entdeckt das Gerippe des jüngsten Bruders und bestraft anschließend die zwei älteren, indem er sie ins Wasser wirft. „Das Gebein aber von dem Gemordeten ward auf dem Kirchhof in ein schönes Grab gelegt.“ Die „Knochenmusik“ stellt Gerechtigkeit wieder her. Ein verirrter Knochen des jüngeren Bruders, den der Hirte zufällig wie eine Nadel im Heuhaufen entdeckt, führt zu einer würdigen Bestattung, durch die ein Andenken allererst möglich wird. Noch Jahre später beschäftigt Jacob Grimm dieses Thema. In seinen Überlegungen „Über das Verbrennen der Leichen“ schreibt er über die raumfüllenden Knochenhaufen in den Grüften einiger italienischer Klöster, darüber, wie dort menschliche Gerippe, zerstückelt und zergliedert, zu einer anonymen Knochenmasse aufgeschichtet werden, so dass den einzelnen Toten gar nicht angemessen gedacht werden kann; „für die angemessenste, das andenken am längsten sichernde bewahrung unserer überreste wird die gelten müssen, welche den geringsten raum kostet und die vorgehende gestalt zu erhalten aufgibt.“
    Der „Knochenmusik“ einen gänzlich neuen Sinn gaben Boris Pawlinow und Ruslan Bogoslowski. Als junge Männer (Flakhelfergeneration) erfanden sie im Nachkriegsrussland etwas, mit dem sie laut Behörde die sowjetische Jugend moralisch zu verderben drohten und wofür sie im November 1950 in Leningrad, dem heutigen Sankt-Petersburg, zu jeweils fünf Jahren Lagerhaft verurteilt wurden. In einem Geheimstudio fingen sie an, von den Sowjets verbotene westliche Populärmusik, zum Beispiel geschmuggelte Rock’n’Roll- und Jazzplatten, auf alte Röntgenaufnahmen zu pressen und zu verbreiten. Diese besorgten sie aus medizinischen Archiven und Krankenhausabfällen. Ihre Raubkopien hatten in diesem Sinne eine signifikante Doppeldeutigkeit. In seinem Erzählungsband „Letztes Lied einer vergangen Welt“ verleiht der junge US-Amerikaner Anthony Marra (*1984) genau dieser Doppeldeutigkeit des „Roentgenizdat“ neues Leben. Er beschreibt nicht nur die Bauweise der „Knochenmusik“, sondern auch die Liaison, die die „Bilder menschlichen Schmerzes“ und „ein so reiner und freudvoller Klang wie die Stimme von Brian Wilson“ eingehen. Und anhand der Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen Musik und den auf den Röntgenaufnahmen dokumentierten Krankheiten – als ob die Musik der Beach Boys Krebs verursachen könnte –, führt er den Konflikt zwischen den Systemen Ost und West, der auch einer zwischen den Generationen, zwischen Jung und Alt ist, nicht zuletzt ad absurdum.
    Und als gäbe es nicht schon genug der Belege für eine kleine Begriffsgeschichte der „Knochenmusik“, existieren neben demjenigen Söllners mindestens zwei weitere Gedichte, in die sie eingegangen ist. „Die Angsttänzerin“ schrieb Yvan Goll (1891-1950) auf Deutsch, kurz vor seinem Tod Anfang 1950. Das zweite trägt den Begriff, wie bei Söllner, im Titel und stammt vom kürzlich verstorbenen Günter Herburger (1932-2018), der es 1990 in seinem mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichneten Gedichtband „Das brennende Haus“ veröffentlichte. Beide machen einen metaphorischen Gebrauch von der „Knochemusik“. Goll nähert sich ihr in starker Metrisierung, romantischem Vokabular und der Diffusität von Angstzuständen. Als etwas in Todesangst Verzückendes („Im Kreise von roten Kriegern beschwingt dich die Knochenmusik“) findet seine „Knochenmusik“ im „Gespräch mit dem waffenglitzernden Feind“ ihre Entsprechung. Dagegen ist Herburgers Gedicht eine evolutionstheoretische Vorwegnahme: Uns gebe es nicht mehr, wir seien „längst tot“. Aber die zersprengte und zu einem Radiostern gewordene Sonne versende noch immer Radiobotschaften aus der Tiefe des Weltraums, bis sie, die Sonne, nicht die „Knochenmusik“ der Radiobotschaften, vollständig in der Lichtlosigkeit verlösche. „Knochenmusik“, das ist „fast nichts“, aber nicht nichts: nicht nichts am „Rand“ einer „Nebelkammer“ – und selbst am „Rand“ des Kosmos nicht nichts.
    Schließlich Söllner „Knochenmusik“, das die Begriffsgeschichte insofern ergänzt, als es deren Dimensionen durch eine Experimentalanordnung aufeinanderabstimmt. Durch Nennung von Amsterdam („Prinsengracht“) und „Anne“ (Anne Frank) erinnert es an die Shoa und greift auf diese Weise bestimmte kollektive Gedächtnisse und kulturelle Identitäten auf. Aber das Ich steigt nicht wirklich ein in das Thema, es denkt nur daran („Da habe ich, Anne, an dich gedacht“). Das Bild der Anne Frank kreuzt zufällig seine Selbstmordgedanken – sind es welche? –, was sicherlich auch am Aufenthaltsort Amsterdam liegt, wo Anne Frank seit Juli 1942 mit ihrer Familie lebte und die berühmten Tagebücher entstanden. Aber es erscheint eher unplausibel, von ortsbedingten Selbstmordgedanken auszugehen.
    Die letzte Strophe führt zwei neue Aspekte ein: Als „schwarz“ anzuschauenden „Engel“, als „Todesengel“, wurde nach 1945 auch der gefürchtete Lagerarzt Josef Mengele mythologisch apostrophiert. Die „Knochenmusik“ weist hier auf die vielen anonymen Massengräber um die KZs des Dritten Reiches hin. Anne Franks Gedenkstätte in Bergen-Belsen erinnert daran, dass auch sie in einem solchen ruht. Zudem könnte man angesichts des Themas des Gedichts die Kreuzreime mit dem Begriff der „Trauma-Reime“ enger fassen. Söllner selbst führt diesen Terminus in seinen „Ungereimten Gedanken über den Reim und andere Anrüchigkeiten“ ein: „Übrigens ist der trivialste Reim, den es im Deutschen gibt, ein sehr deutscher, ein ‚Trauma-Reim‘: Ausdruck eines elementaren Bruchs, den man in Deutschland vornehmlich am Herzen erleidet: auf ‚Herz‘ reimt sich am besten der ‚Schmerz‘.“
    Und während Herburgers „Knochenmusik“ in keinem Verhältnis zum Menschen mehr steht, weil alle „längst tot“ sind, wenn sie erklingt, bindet Söllner das Lesen von Literatur daran, „dass mindestens ein Mensch noch lebt“: „Literatur ist ein Zeichen, das bedeutet, dass mindestens ein Mensch noch lebt: der, der sie liest.“
    Söllners „Knochenmusik“ legt Zeugnis davon ab, dass es nach 1945, nach Hitlers Schlächtern, keine vollkommen unschuldigen Knochen-Gedichte mehr geben kann. Die „Osteogenesis imperfecta“, eine Erbkrankheit, ist ihnen seitdem sozusagen ein für alle Mal mitgegeben. Das macht sie leicht zerbrechlich, und auf Röntgenaufnahmen gibt sich ihre glasige Struktur zu erkennen, der Söllners lyrische Sprachreduktion, Luzidität und Präzision entsprechen.



Die Angsttänzerin (Yvan Goll)

Die Angst deiner Hände ist leicht wie der Rauch über Äckern
Du bist gefangen im Dornturm
Du schwebst durch die Mauer hindurch und gelangst doch nimmer zu mir

Die Angst deiner Haare ist gelb wie der Schein vergehender Kerzen
Die Angst deiner Stimme ist undurchdringlich wie Nebel
Du wirfst dich an meine Brust und dennoch spür ich dich nicht

Du bist eine Angst-Tänzerin als Herbstzeitlose verkleidet
Im Kreise von roten Kriegern beschwingt dich die Knochenmusik
Doch nimmer sprengst du den Kreis und nimmer schwebst du zu mir

Was flüstert in deinem Kopf? Wen nennst du deinen Bedränger?
Nie schwelte so trügerisch das rötliche Grün deiner Augen
Als im Gespräch mit dem waffenglitzernden Feind

Die Angst ist das glühende Wollkleid das blaue das ich dir gekauft
Es umfängt dich und läßt dich nicht her bis zu mir
Du brennst in seinem Geweb und dein Ruf ist ein klagender Vogel


Knochenmusik (Günter Herburger)

Eines Morgens,
wenn wir längst tot sind,
würde ein roter Riese,
der einst unsere Sonne war,
seine Hüllen sprengen und,
in sich zusammenstürzend,
zu einem Radiostern werden,
der, wenn er schließlich verlöschte,
noch ein wenig Eisen übergieße,
das durch den Weltraum geisterte,
als suchten umhertorkelnde Schwellen
nach einem lichtlosen Damm.
Daß fast nichts mehr bestünde
mit einem Rand,
der sich noch einmal selbstständig
machte aus einer Nebelkammer,
geriete erneut in Sicht,
zusammengehalten von Krümmungen
und der Last letzter Geschwindigkeiten,
als verfehle die Rute
eines vor Zorn
blind gewordenen Lehrers
die Tatzen seiner Schüler.


Knochenmusik (Werner Söllner)

Im September an der Prinsengracht,
da wollte ich nicht mehr leben.
Da hab ich, Anne, an dich gedacht
und ging ins Rentrée einen heben.

Ein Ober in Weiß, er brachte Wein
zu einem besonderen Essen.
Ich fühlte mich vornehm, allein
und fast wie alteingesessen.

Der Engel, der mir zu Kopfe stieg,
er war schwarz anzuschauen.
Auf dem Heimweg lag Knochenmusik
überm Wasser, dem grauen.

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