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14 Pinselnotizen - 5

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14 Pinselnotizen
aus dem Yue wei caotang biji
("aus der Strohhütte der Betrachtung des Unscheinbaren”)

des Ji Yun (Ji Xiaolan, 1724-1805).
Übersetzung: Rupprecht Mayer

5)

Ru Shensi berichtet von einem Prüfungskandidaten aus der unteren Yangtse-Region, der im Sommer des Jahres jimao der Qianlong-Periode (1759) außerhalb des Xizhi-Tores ein großes Grabwächterhaus mietete. Er wollte dort seinen Studien nachgehen, da ihm die Herbergen der Hauptstadt zu armselig und beengt waren. Als er einmal in der abendlichen Kühle unter den Bäumen spazierenging, erblickte er ein Mädchen von fünfzehn oder sechzehn Jahren, das eine schöne weiße Haut hatte. Als er sie ansprach, schalt sie ihn nicht, ging aber auch nicht darauf ein, sondern verschwand hinter einer Mauer und entfernte sich. Um Mitternacht wachte er auf und glaubte ein von der Türverriegelung herrührendes Geräusch zu vernehmen. Er rief nach seinen Dienern, doch die reagierten nicht. So stand er selbst auf und erkannte, durch den Türspalt lugend, das Mädchen, das er untertags getroffen hatte. Er wusste nun, dass sie zu ihm wollte, öffnete eilig die Tür und geleitete sie unter Umarmungen herein. Das Mädchen sagte, sie sei die Tochter des Grabwächters. Sie seien bitterarm, und sie lebe stets in der Angst, dass ihre einfältigen Eltern sie einem Bauern zur Frau geben würden. “Nachdem Ihr mir heute Eure Aufmerksamkeit schenktet, konnte ich mich nicht zurückhalten und drang durch eine Lücke in der Mauer in Euer Anwesen ein. Ihr seid ein hochgestellter und wohlhabender Herr und habt bestimmt schon eine Frau. Doch wenn Ihr hundert Tael Silber für meine Eltern erübrigen könnt, dann will ich Eure Nebenfrau werden und es niemals bereuen. Aus Gier nach dem Geld werden meine Eltern sicherlich ihre Zustimmung geben.“ Der Kandidat willigte ein, und sie gaben sich zärtlicher Liebe hin. Beim ersten Hahnenschrei verließ sie ihn, um dann stets um Mitternacht wiederzukommen. Ihre Verführungskünste und ihre Hingabe erfanden hundertfach immer neue Varianten. Für den Kandidaten stand dieses Liebesglück den bekannten Vorbildern aus alter Zeit in keiner Weise nach. Als sie sich einmal ein wenig verspätete, machte er in ihrer Erwartung einen Spaziergang im Mondenschein. Da sah er sie plötzlich von einem Baumwipfel herabfliegen, und ihm wurde alles klar. Er sagte: “Du bist wohl eine Füchsin?” Das Mädchen machte keinen Hehl daraus und meinte: “Zu Anfang fürchtete ich, Ihr würdet es mit der Angst bekommen, und flunkerte Euch deswegen etwas vor. Doch nun lieben wir uns so innig, da will ich ganz offen zu Euch sein. Ihr werdet als Beamter Reisen in alle vier Himmelsrichtungen unternehmen. Wenn Ihr dann eine unsichtbare Konkubine mit Euch führen könnt, für die ihr weder Pferd noch Wagen braucht, die keine Ansprüche an die Unterkunft stellt, keine Kleider und nichts zum Essen braucht, die Ihr untertags an Eurer Brust oder im Ärmel mit Euch führen könnt, und die des Abends herauskommt, um mit Euch das Lager zu teilen – ist das nicht viel besser, als wenn Ihr Euch für viel Geld das Lächeln von Frauen erkaufen müsst?” Der Kandidat ließ sich das durch den Kopf gehen, und es erschien ihm vorteilhaft. Von da an lebte sie insgeheim in seinem Studierzimmer und kam nicht nur zur Nachtzeit. Doch immer wenn die Lampen angezündet wurden, ging sie weg, um erst um Mitternacht zurückzukommen. Dann waren ihre Frisur und ihr Kopfputz manchmal etwas aufgelöst. Der Kandidat fasste einen Verdacht, doch er hatte vorerst keine Gewissheit. Nun verhielt es sich so, dass sie ihn mit seinem Lustknaben betrog, dabei von seinen zwei Dienern beobachtet wurde, und es dann auch mit jenen trieb. Schließlich bekam auch der Koch Wind von der Sache, und sie schlief auch mit ihm. Als sie einmal untertags mit dem Lustknaben im Bett lag, schlich sich der Kandidat heran und erwürgte sie. Sie nahm daraufhin wieder ihre Fuchsgestalt an, und man begrub sie außerhalb der Mauern. Einen halben Monat später erhielt der Kandidat den Besuch eines alten Mannes. Er sprach: “Meine Tochter hat sich Euch als Nebenfrau anvertraut, warum ist sie plötzlich getötet worden?” Der Kandidat erwiderte voller Zorn: “Dass du weisst, dass deine Tochter meine Nebenfrau war, das macht die Erklärung einfach. Denn wenn zwei Männer die selbe Frau haben, und einer im Streit um sie den anderen tötet, dann wäre das ein Eifersuchtsdelikt, und er würde nach dem Gesetz dafür zur Rechenschaft gezogen. Doch deine Tochter war meine Nebenfrau, und ich habe den Bund mit ihr beibehalten, obwohl ich wußte, dass sie kein Mensch war. Unsere Rollen als Mann und Frau waren also festgelegt, und da sie danach mit anderen und auch mit meinen Dienern Unzucht trieb, hatte ich das Recht, die Ehebrecher zu fassen. Wo liegt meine Schuld, wenn ich sie tötete?” Der Alte sagte: “Aber warum habt Ihr denn Eure Diener nicht getötet?” Der Kandidat antwortete: “Als deine Tochter tot war, nahm sie ihre ursprüngliche Gestalt wieder an. Doch die anderen sind alle Menschen. Wenn einer mit eigener Hand vier Menschen getötet hat, und dann nur einen toten Fuchs als Beweisstück in Händen hält – wenn du der Richter wärest, könntest du auf einer solchen Grundlage ein Urteil fällen?” Der alte Mann stand lange mit gesenktem Kopf da, dann schlug er die Hände auf seine Knie und rief: “Das hast du dir selbst zuzuschreiben! Ich hätte wahrlich nie gedacht, dass es so weit mit dir kommen würde!” Darauf klopfte er sein Gewand zurecht und ging. Der Kandidat übersiedelte bald danach zum Zhunti-Kloster, in die Nachbarschaft von Ru Shensi. Sein Lustknabe, der der Füchsin besonders zugetan gewesen war, hegte einen Groll gegen seinen Herrn wegen dessen Grausamkeit und plauderte die Sache vor Ru Shensi aus. Dadurch kannte er all die Einzelheiten.
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