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14 Pinselnotizen - 14

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14 Pinselnotizen
aus dem Yue wei caotang biji
("aus der Strohhütte der Betrachtung des Unscheinbaren”)

des Ji Yun (Ji Xiaolan, 1724-1805).
Übersetzung: Rupprecht Mayer

14

Der verstorbene Herr Yao’an [mein Vater] erzählte mir: “Neben ihrem Studium sollten die jungen Leute auch ein wenig von der Familie und von der Welt wissen, erst dann können sie eine Familie führen und sich in der Welt engagieren. Zu Ende der Ming-Dynastie stand die ‘Lehre des Weges’ [die orthodoxe konfuzianische Ethik in der Interpretation der Song-Dynastie] in höchstem Ansehen, und die Beamtenprüfungen wurden sehr wichtig genommen. Die Schlauen redeten nur noch über die ‘Lehre des Herzens’ [des Wang Yangming], bildeten Seilschaften und gewannen Einfluss, und auch die Biederen klammerten sich an ihre Lehrbücher, um einst Karriere zu machen. So kam es dazu, dass aus zehn Studierten kaum zwei oder drei verständige Menschen wurden. Im Jahr Ren-wu der Chong-zhen-Periode [1642] zog der Herr des Studios der Grosszügigkeit [Ji Houzhai] mit seiner Familie [in die Provinzhauptstadt von] Hejian [heutiges Henan], um den lokalen Banditen in Meng Cun aus dem Weg zu gehen. Nach seinem Tod kam die Nachricht, die grosse Armee [der Qing] würde bald Hejian erreichen, und man fasste den Plan, aufs Land zu ziehen. Kurz vor dem Aufbruch betrachtete ein alter Mann aus der Nachbarschaft die Türgötter und seufzte: ‚Wenn es heute Männer wie Yuchi Jingde und Qin Qiong gäbe, dann wäre es nicht so weit gekommen.’ Deine beiden Grossonkel, mit Namen [Ji] Jingxing und [Ji] Jingchen, waren beide bekannte Studiosi. Sie hörten das, als sie gerade vor dem Tor Deckenrollen verschnürten, und fingen an, mit dem Alten zu diskutieren: ‚Das sind Darstellungen von Shen Tu und Yu Lei, nicht von Yuchi Jingde und Qin Qiong!’ Der Alte gab nicht klein bei, sondern suchte in der ‚Reise nach dem Westen’ von Qiu Chuji nach einer Belegstelle. Meine beiden Grossonkel meinten, hier könne man sich nicht auf populäre Romanliteratur als Quelle verlassen. Sie gingen ins Haus zurück und holten das ‘Shen yi jing’ von Dongfang Shuo, um mit diesem Buch zu argumentieren. Es war nun schon Abend, und über das Nachschlagen war die Zeit ebenso vergangen wie über das Hin- und Herdiskutieren. Die Stadttore waren zu, man konnte nicht mehr hinaus. Als sie am Tag darauf aufbrechen wollten, hatte die Armee die Stadt schon eingeschlossen. Als sie eingenommen wurde, fand die ganze Familie den Tod. Nur dein Urgrossvater, Herr [Ji] Guanglu, dein Urgrossonkel, Herr [Ji] Zhenfan und dein Grossonkel, Herr [Ji] Yuntai überlebten. Leben und Tod trennt nur ein Atemzug, die Breite eines Haares. Wenn man da noch Nachforschungen über die Echtheit alter Schriften anstellt – liegt der Grund dafür nicht darin, dass man nur Bücher zu lesen weiss, aber mit der Außenwelt nicht zurechtkommt?“ Diese Argumentation des Herrn Yao‘an habe ich bislang nie in meine Pinselnotizen aufzunehmen gewagt, da sie meine beiden Urgrossonkel betrifft. Doch wenn ich es heute recht überlege, dann ist es ja eigentlich nichts Schlimmes, ein Büchernarr zu sein. Seit den ältesten Zeiten gab es mehr als einen grossen Gelehrten, der so war. Deswegen füge ich es hier ein.
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