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14 Pinselnotizen - 11

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14 Pinselnotizen
aus dem Yue wei caotang biji
("aus der Strohhütte der Betrachtung des Unscheinbaren”)

des Ji Yun (Ji Xiaolan, 1724-1805).
Übersetzung: Rupprecht Mayer

11)

Guo Liu (”Sexta Guo”) war eine Bauersfrau in Huaizhen. Wir wissen nicht, ob Guo der Familienname ihres Mannes oder der ihres Vaters war. Es ist nur ihr Name “Guo Liu” überliefert. In den Jahren Jiachen und Yisi der Yongzheng-Periode (1724-1725) herrschte eine grosse Hungersnot. Ihr Mann rechnete damit, dass er nicht überleben würde und verließ den Hof, um in allen Himmelsrichtungen zu betteln. Vor seinem Aufbruch machte er vor seiner Frau Kotau und sprach: “Vater und Mutter sind schon alt und krank. Ich muss dich mit ihnen belasten.” Die Frau hatte ein hübsches Aussehen, und die jungen Männer im Dorf, die sahen, dass es ihr an Nahrung mangelte, wollten sie mit Geld verführen, aber sie ging nie darauf ein. Erst sorgte sie ausschließlich mit Frauenarbeit [Weben und Sticken] für ihre Schwiegereltern, doch später stellte sich heraus, daß das nicht reichte. Deshalb rief sie die Nachbarn zusammen, machte vor ihnen Kotau und sprach: “Mein Mann hat mir seine Eltern überantwortet, doch ich bin mit meinen Kräften am Ende und weiss mir keinen Rat mehr. Wir müssen wohl alle sterben. Wer von den Nachbarn mir helfen kann, den flehe ich um Hilfe an. Wenn man mir nicht hilft, dann werde ich Blumen verkaufen, doch lacht dann nicht über mich (der Volksmund nennt es “Blumen verkaufen”, wenn Frauen “an der Tür lehnen”). Die Nachbarn zögerten und waren unentschlossen, und mit der Zeit gingen alle auseinander. Daraufhin weinte sie bitterlich, erklärte sich ihren Schwiegereltern und liess sich dann ganz offen mit liederlichen Männern ein. Insgeheim sparte sie das Geld, das sie für die nächtlichen Treffen erhielt, und kaufte damit ein Mädchen, das sie streng behütete. Kein Fremder bekam ihr Gesicht zu sehen. Wenn die Leute sagten, sie wolle auf diese Weise nur einen hohen Preis für sie erzielen, dann widersprach sie nicht. Nach gut drei Jahren kam ihr Gatte zurück. Nachdem sie eine Weile geplaudert hatten, führte sie ihn zu ihren Schwiegereltern und sagte: “Deine Eltern sind beide noch am Leben. Ich gebe sie dir jetzt zurück.” Dann stellte sie das Mädchen, das sie gekauft hatte, ihrem Mann vor und sagte: “Mein Leib ist bereits befleckt, ich würde die Schande nicht ertragen, dir wieder gegenüberzutreten. Ich habe dir eine andere Frau gekauft und übergebe sie dir nun.” Ihr Mann fiel aus allen Wolken, doch bevor er etwas erwidern konnte, sagte sie: “Ich mache dir jetzt etwas zu essen.” Dann ging sie in die Küche und schnitt sich die Kehle durch. Als der Kreisvorsteher kam, um sie in Augenschein zu nehmen, da waren ihre Augen noch weit geöffnet. Er entschied, dass sie im Grab der Ahnen bestattet werden solle, aber nicht zusammen mit ihrem Gatten. Er sagte: “Nicht im gemeinsamen Grab, weil die Verbindung zu ihrem Gatten aufgelöst sein sollte. Dass sie bei den Ahnen bestattet wird, soll zeigen, dass ihre Verbindung zu den Schwiegereltern nicht aufgelöst ist.” Doch sie schloss immer noch nicht ihre Augen. Ihre Schwiegereltern klagten laut: “Sie war eigentlich eine keusche Frau. Nur wegen uns ist es soweit gekommen. Wie kann man jemanden verstossen, der an der Stelle eines Sohnes, der es selbst nicht vermochte, dessen Eltern ernährt hat? Und ausserdem: selbst ein Fremder auf der Strasse erkennt doch die Gesinnung von einem, der als Mann seine Eltern nicht ernähren kann, sich zurückzieht und sie einer jungen Frau überantwortet. Wessen Schuld ist es denn, dass sie verstossen werden soll? Das ist eine Sache unserer Familie, die Behörde braucht sich nicht darum zu kümmern!” Nach diesen Worten schlossen sich ihre Augen. Damals gab es in dem Ort die unterschiedlichsten Meinungen dazu. Herr Chongyu, mein verstorbener Ahn, meinte: “Treue und Kindespietät sind von gleicher Wichtigkeit. Doch hier konnte man nicht sowohl treu sein als auch Kindespietät üben. Nur ein Mann von heiliger Weisheit könnte hier ein Urteil fällen. Ich wage es nicht, dazu etwas zu sagen.“
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