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(Helge Pfannenschmidt, Nancy Hünger:) Das Gedicht & sein Double

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Timo Brandt

Ein großartiges Album


„Zwei Jahre haben wir intensiv an diesem Band gearbeitet. Wenn wir uns für seine Wahrnehmung etwas wünschen dürften, dann wäre es das Folgende: dass aus den Bildbetrachtern Gedichtleser werden.“

Diese abschließenden Sätze aus dem Vorwort des Bandes „Das Gedicht & sein Double“ (verfasst von Nancy Hünger und Helge Pfannenschmidt, die auch die Herausgeber*innen sind) formulieren in meinen Augen nicht nur einen frommen Wunsch, denn dieser Band, mit 100 Autor*innen-Porträts des Fotographen Dirk Skiba und jeweils einem, oft selbstbezüglichen und nicht selten für den Band und zu dem Foto verfassten Gedicht der Porträtierten, weiß in seiner Kombination aus Porträt und Selbstporträt, Eindruck und Aussage, Darstellung und Feinstellung, etc. nicht nur zu überzeugen, sondern auch: zu begeistern.

Schon das Format war für mich eine Überraschung, hatte ich doch mit einem Buch etwas über Taschenbuchgröße gerechnet und nicht mit dem wuchtigen, aber wunderbaren Albumformat (etwa A4).
    Zumindest für mich machte dies bei der Lektüre einen großen Unterschied: ich las kein Buch, ich blätterte durch ein Album, was mich augenblicklich in die Haltung des Staunenden versetzte, mich dazu brachte, mir Zeit zu nehmen. Wegen der Gedichte wurde ich dann auch wieder zum Leser, blieb aber Staunender. Diese Doppelung trug mich durch den Band, der auch deswegen einen starken Eindruck hinterlassen hat.

„Nur Blut gerinnt,
doch niemals Zeit, auf vielen Photos scharf gestochen.“
(Durs Grünbein)

Ich kannte schon einige Fotographien von Dirk Skiba und war gespannt, welche für den Band ausgewählt werden würden. Es ist ein sehr guter Querschnitt geworden, sowohl was die Stimmungen und Ausdrücke betrifft, als auch die literarischen Positionen und Altersklassen. Meine Angst, dass die Gedichte nur schmückendes Beiwerk sein könnten, erwies sich als unbegründet: natürlich sind es nicht alles Hochkaräter, aber der Band zeichnet sich auch hier durch eine hohe Bandbreite aus, und viele der Gedichte haben mich widererwartend berührt und inspiriert.

Wohl auch, weil ich das Gefühl hatte, noch nie so viele ehrliche lyrische Selbstaussagen (durchaus chiffriert, stilisiert, ästhetisiert, mit Augenzwinkern versehen und transzendiert, aber meist mehr enthüllend denn verhüllend) von Dichter*innen gelesen zu haben; gleichsam als würden die Fotos einen Raum schaffen, in dem die Selbstbezeichnungen in Teilen unabwendbar plastisch werden, nicht unbedingt im Bild, aber eben durch das Bild.

„nannten wir dinge bei namen verschwanden sie bald,
aber uns blieben bücher in denen sich vieles verstand,
nur die leser verstanden kein wort und sie schickten uns weiter dinge“
(Ulrich Zieger)
         
Wer sind sie, die Dichter*innen? Auch diese Anthologie kann das freilich nicht erklären, bestimmen, doch zu einem gewissen Maß – zeigen: im Spiegel der eigenen Worte, im Visier der Fotographien, den beiden schwarz-weißen Abbildungen, gerinnt etwas von dem, was die Begriffe Gedicht und Autorschaft ausstrahlen, für sich beanspruchen können.

Also: ein sehr gelungenes, inspirierendes Projekt. Ein Buch, von dem ich sagen würde: muss man erlebt haben! Nicht nur wegen der vielen Beiträge, sondern vor allem wegen des Raums, des Rahmens, den diese Publikation bietet und ausschöpft. Obwohl ich es gerade einmal 48 Stunden in den Händen halte, weiß ich schon, dass mich dieses Album noch lange begleiten wird.

Vielleicht wegen der vielen Persönlichkeiten, die hier versammelt sind und sich in so viele Richtungen ausdrücken, vielleicht wegen der Fülle an Selbstvollzug, der ja durchaus immer Intimität beherbergt, vielleicht wegen der Kombination aus Verletzlichkeit und Selbstbestimmung: diesem Buch gelingt es jedenfalls, mir auf einer sehr persönlichen Ebene zu begegnen. Eine Erfahrung, die mich jedes Mal verblüfft und freut.

Texte von: Kurt Aebli, Sascha Anderson, Artur Becker, Kerstin Becker, Marcel Beyer, Nico Bleutge, Paulus Böhmer, Mirko Bonné, Nora Bossong, Volker Braun, Yevgeniy Breyger, Sonja vom Brocke, Carolin Callies, Mara-Daria Cojocaru, Franz Josef Czernin, Max Czollek, Lydia Daher, Daniela Danz, Franz Dodel, Dominik Dombrowski, Michael Donhauser, Anne Dorn, Ulrike Draesner, Özlem Özgul Dündar, Sirka Elspaß, Carl-Christian Elze, Elke Erb, Brigitta Falkner, Gerhard Falkner, Michael Fehr, Zsuzsanna Gahse, Mara Genschel, Lisa Goldschmidt, Eugen Gomringer, Nora Gomringer, Dieter M. Gräf, Durs Grünbein, Alexander Gumz, Jürg Halter, Kerstin Hensel, Günter Herburger, Anna Hetzer, Franz Hodjak, Tim Holland, Norbert Hummelt, Ianina Illitcheva, Hendrik Jackson, Orsolya Kalasz, Maren Kames, Anja Kampmann, Adrian Kasnitz, Ulrich Koch, Barbara Köhler, Uwe Kolbe, Thorsten Krämer, Dagmara Kraus, David Krause, Nadja Küchenmeister, Björn Kuhligk, Thomas Kunst, Georg Leß, Kito Lorenc, Christoph Meckel, Klaus Merz, Rainer René Mueller, Jovan Nikolic, Brigitte Oleschinski, José F.A. Oliver, Ronya Othmann, Frieda Paris, Martin Piekar, Kerstin Preiwuß, Karla Reimert, Sophie Reyer, Marcus Roloff, Ulrike Almut Sandig, Rike Scheffler, Robert Schindel, Stefan Schmitzer, Katharina Schultens, Tom Schulz, Lutz Seiler, Volker Sielaff, Werner Söllner, Verena Stauffer, Michael Stavaric, Michelle Steinbeck, Ulf Stolterfoth, Hans Thill, Kinga Toth, Julia Trompeter, Anja Utler, Sibylla Vricic Hausmann, Jan Wagner, Saskia Warzecha, Peter Waterhouse, Christoph Wenzel, Ron Winkler, Janin Wölke, Ulrich Zieger

(Helge Pfannenschmidt, Nancy Hünger:) Das Gedicht & sein Double. Die zeitgenössische Lyrikszene im Portrait. Dresden (edition AZUR) 2018. 324 Seiten. 34,90 Euro.
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