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(Anja Bayer, Daniela Seel:) all dies hier, Majestät, ist deins

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Dirk Uwe Hansen

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile



Diese Besprechung kommt zugegebenermaßen spät. Der Anthropozän-Band ist nun schon einer Weile auf dem Markt, verkauft sich hoffentlich gut und ist sicher bereits jetzt die bekannteste Anthologie-Neuerscheinung des Jahres 2016 — und ein breites Medienecho (naja, für genretypische Verhältnisse halt) hat er auch gefunden.
Gründe für meine Verspätung gibt es genug: Einmal musste ich mich erst von der Enttäuschung erholen, selbst nicht mit dabei zu sein, außerdem gibt es ja auch immer viel zu tun, und es ist dazu noch ein ziemlich dickes Buch (für die, die noch einen letzten Anstoß für den Kauf brauchen: So viele Gedichte für den Preis bekommt man — in dieser Qualität zudem — kaum jemals geboten)… Man könnte es dabei bewenden lassen.
Trotzdem möchte ich noch etwas sagen zu diesem Band, auch wenn (oder vielleicht auch weil) ich mit Anthologien hier und da meine Schwierigkeiten habe. Häufig bieten solche Sammlungen zwar einen guten Einblick in den Geschmack der Herausgeber oder in das, was die Herausgeber für den Geschmack ihrer Leser halten, es findet sicher auch fast jeder in fast jeder Anthologie, ob sie nun Gedichte zur Farbe Weiß, Gedichte der Fünfziger Jahre oder Gedichte von Autoren etwelcher geographischer Herkünfte sammelt, ein paar Gedichte, die ihm gefallen und die im Idealfall weitere Buchkäufe und Lektüren nach sich ziehen; am Sinn von Anthologien ist also kaum zu rütteln. Und wie auch jeder Leser, findet sicher auch jeder Rezensent in jeder Anthologie irgendetwas zum Loben.


Mit dieser Anthologie verhält es sich anders, und das nicht nur, weil die hier versammelten Gedichte alle so interessant sind, dass man als Rezensent blind hineingreifen könnte, um Beispiele zu finden, mit denen die Sammlung sich gehörig loben ließe. Auf Beispiele will ich hier verzichten, aber es scheint mir einen Punkt zu geben, der bislang noch nicht genügend herausgestellt worden ist. Denn es geht ja in diesem Band nicht darum, eine mehr oder weniger repräsentative Auswahl aus einem vorher durch Thema oder Chronologie festgeschriebenen Corpus von Texten zu erstellen, vielmehr war es nötig, „Anthropozän” als Epoche, d.h. als auch literarisch-spezifische Epoche, erstmalig zu konstituieren.

Um die Größe dieser Aufgabe und die Leistung der beiden Herausgeberinnen Anja Bayer und Daniela Seel vor Augen zu führen, muss ich vergleichen. Karl Pinthus’ „Menschheitsdämmerung” ließe sich heranziehen, eine Sammlung (die wohl erfolgreichste deutschsprachige Anthologie, wie es scheint), die neben dem Verdienst, eine große Zahl großartiger Texte zugänglich zu machen, erst deutlich gemacht, dass mit dem Expressionismus nicht eine Mode aufgekommen, sondern eine neue Art des literarischen Sprechens in einer radikal sich verändernden Welt notwendig geworden ist, mit der der Mensch seinen Platz in dieser veränderten Welt behaupten kann. Oder Alfred Margul-Sperbers Sammlung „Die Buche”, eine Sammlung, die durch ihre Veröffentlichung mehr als sechzig Jahre nach ihrer Entstehung uns Nachgeborenen vor Augen führt, welche andere Welt noch möglich gewesen ist, bevor sie von der faschistischen Barbarei vernichtet wurde — und ich gehe wohl nicht zu weit, wenn ich in dem hier vorliegenden Band ein Beispiel sehe für das, was heute möglich und notwendig ist, damit wir uns als Menschheit im Angesicht der uns zunehmend wieder bedrohenden Barbarei behaupten können.

Aber vielleicht kann man noch etwas weiter hinaufgehen in die Literaturgeschichte? Im dritten Jahrhundert vor Christus begannen eine Reihe von Redaktoren eine mehrere Jahrhunderte andauernde Arbeit an einer Sammlung archaischer Elegien, die heute unter dem Namen des Theognis überliefert ist, aber Gedichte unterschiedlicher Autoren (deren Namen uns zum großen Teil verloren sind) enthält; und doch gibt diese Sammlung einen Einblick in Denken und Sprechen der archaischen Welt, wie sie die Lektüre nur einzelner dieser Autoren kaum bieten könnte — das Ganze ist hier mehr als die Summe seiner Teile.

„All dies hier, Majestät, ist deins” lese ich in der gleichen Weise. Gewiss, die Sammlung präsentiert eine große Zahl lesenswerter DichterInnen, und doch bringt die Lektüre der gesamten Sammlung einen Erkenntnisgewinn, den die Lektüre verstreuter Einzelbände nicht bieten könnte (und das lässt sich nun wirklich nicht von jeder Anthologie auf dem Markt sagen), ja, selbst wenn die Ungunst der Überlieferung späteren Generationen nichts als die von den Herausgeberinnen zusammengestellten Kapitelüberschriften übrig ließe, ließe sich in denen ein Gedicht erkennen, das, wie die Theognidea auch, keinem einzelnen Autor zuzuweisen ist und doch Aufschluss gibt über unsere Zeit.

Eines nur möchte ich kritisieren. Auch wenn es zum guten Ton gehört, dass Herausgeberinnen keine eigenen Gedichte in ihre Anthologie aufnehmen (ich könnte hier wieder Gegenbeispiele aus der Anthologia Graeca anbringen, verzichte aber darauf), die Autorinnen Anja Bayer und Daniela Seel fehlen mir in der Sammlung schmerzlich. Daher bringe ich doch noch zwei Beispiele, von Texten jedoch, die nicht in dem Band auftauchen, wohl aber auftauchen sollten:

Aufwölbung
des Leibes des Drachens im
Schnellrestaurant die Fülle
aller Gaben Verheißung
der Gegenwart Mittag und Abend
preise
Morgenlob
an Plastiktischen mut
machende Erkenntnisse was könnte
werden?

(aus: Anja Bayer, ungewusstes fell)


Die längste Zeit dachte ich, Wölfe gibts nur noch in Filmen,
oder im Zoo. Als würde Geschichte vorgestellt Erosion, also
Verlust statt Bearbeitung. Erst das Protokoll unterscheidet
Ausschläge nach Art und Gewicht. Sie wirken wie reinmontiert.
Ihr Echo lässt sich immer noch kleinteiliger separieren. So als
würde man Höfe zeichnen um die Höhe ihrer Unwahrscheinlichkeit,
kontrintuitiv. Und sie dann wieder einspeisen, in Varianten
und Schleifen. Wie bei Teig. Man muss nur lang genug kneten,
um die Luft rauszunehmen, die Tränen. Alles, was nicht mehr geht.

(aus: Daniela Seel, Was weisst du schon von Prärie)


(Anja Bayer, Daniela Seel:) all dies hier, Majestät, ist deins: Lyrik im Anthropozän. Anthologie. Berlin (kookbooks) 2016. 336 Seiten. 22,90 Euro.


Mit Hannes Bajohr, Daniel Bayerstorfer, Kerstin Becker, Marcel Beyer, Nico Bleutge, Mirko Bonné, Markus Breidenich, Tom Bresemann, Yevgeniy Breyger, Sonja vom Brocke, Helwig Brunner, Andreas Bülhoff, Alexandru Bulucz, Sandra Burkhardt, Mara-Daria Cojocaru, Kenah Cusanit, Max Czollek, Daniela Danz, Lydia Daher, Marko Dinić, Franz Dodel, Dominik Dombrowski, Ulrike Draesner, Elke Erb, Daniel Falb, Tobias Falberg, Karin Fellner, Gerald Fiebig, Christian Filips, Claudia Gabler, Sylvia Geist, Axel Goodbody, Dieter M. Gräf, Alexander Gumz, Markus Hallinger, René Hamann, Sonja Harter, Martina Hefter, Christiane Heidrich, Judith Hennemann, Tim Holland, Nancy Hünger, Jayne-Ann Igel, Hendrik Jackson, Oleg Jurjew, Orsolya Kalász, Anja Kampmann, Odile Kennel, Esther Kinsky, Barbara Köhler, Sascha Kokot, Simone Kornappel, Thorsten Krämer, Ursula Krechel, Birgit Kreipe, Jan Kuhlbrodt, Björn Kuhligk, Augusta Laar, Norbert Lange, Georg Leß, Swantje Lichtenstein, Sabina Lorenz, Tristan Marquardt, Olga Martynova, Friederike Mayröcker, Christoph Meckel, Titus Meyer, Hanno Millesi, Sudabeh Mohafez, Juvenal Enrique Morales Flores, Brigitte Oleschinski, José F.A. Oliver, Mario Osterland, Frieda Paris, Judith Nika Pfeifer, Jörg Pieringer, Steffen Popp, Marion Poschmann, Ilma Rakusa, Dana Ranga, Bertram Reinecke, Rick Reuther, Monika Rinck, Marcus Roloff, Andre Rudolph, Lara Rüter, Ulrike Almut Sandig, Àxel Sanjosé, Silke Scheuermann, Felix Schiller, Christian Schloyer, Walter Fabian Schmid, Kathrin Schmidt, Lea Schneider, Sabine Scho, Katharina Schultens, Kristin Schulz, Anne Seidel, Lutz Seiler, Leta Semadeni, Volker Sielaff, Tzveta Sofronieva, Verena Stauffer, Armin Steigenberger, Christel Steigenberger, Robert Stripling, Christoph Szalay, Yoko Tawada, Hans Thill, Asmus Trautsch, Mathias Traxler, Helmuth Trischler, Liesl Ujvary, Raphael Urweider, Anja Utler, Mikael Vogel, Nikolai Vogel, Jan Wagner, Charlotte Warsen, Martina Weber, Christoph Wenzel, Levin Westermann, Ron Winkler, Uljana Wolf, Judith Zander, Nora Zapf - Anja Bayer, Daniela Seel.

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